Der Kommissar war klein und dünn, von überschäumendem Temperament und fest entschlossen, diesen Fall von nationaler Bedeutung aufzuklären.
Er lehnte sich in seinem ausgesessenen Lederstuhl quietschend zurück und sah den spanischen Delinquenten – über seinen mit verstaubten Akten überquellenden Schreibtisch hinweg – mit Widerwillen an.
Der Delinquent war ebenfalls klein aber drahtig, soweit man das unter seinem mit noch frischer Farbe besprenkelten Mechaniker-Outfit* beurteilen konnte. Seine Augen waren tiefbraun, und normalerweise beobachtete er damit die Welt mit unersättlicher Neugierde. Nun aber hatte er die Beine übereinandergeschlagen und saß zusammengesunken auf einem morschen Holzstuhl vor dem Tisch des Kommissars. Nachdenklich betrachtete er – wie Barack Obama beim 1. Fernsehduell mit Mitt Romney – seinen rechten Schuh, mit dem er nervös wippte.
Der Kommissar überlegte, wie dieser Gnom aus der schäbigen Holzbaracke „Bateau Lavoir“ am Momartre an dies schöne Frau kam, die nun vor seinem Dienstzimmer mit ihrem Stöckelschuh-Stakkato auf und ab ging und auf ihren Liebsten wartete. Und wie verachtend sie ihn angesehen hatte, als er sie für das Verhör nach draußen auf den Gang des Polizeireviers komplementiert hatte – diese Schlampe. Wie hieß sie noch gleich? Der Kommissar beugte sich vor und blätterte in seinen Notizen. Fernande Olivier – von Beruf „Modell“. Na, was das für ein Beruf war, konnte sich der Kommissar lebhaft vorstellen und dennoch: Diese Beine, der knackige kleine Hintern … und jetzt stolzierte sie da draußen vor seiner dünnen Pinientür hin und her und erzeugte mit ihren Stöckelabsätzen bei jedem Schritt kleine Dellen im grünen Linoliumboden. Der Kommissar spürte wie ihm die Hose langsam zu eng wurde und eine gewisse Hitze ihn plötzlich von unten nach oben überflutete. Er nahm seinen Notizen, lehnte sich wieder zurück und legte sich die Papiere in Verdeckungsabsicht auf seinen Schoß, aber schon war der Anfall vorbei. Er warf die Notizen mit einem bedrohlichen Knall zurück auf den Schreibtisch.
„Also, Monsieur Picasso – oder soll ich sie lieber mit ihrem vollständigen Namen anreden?“ Wieder griff sich der Kommissar einen Zettel vom Schreibtisch und las mit höhnischem Tonfall vor: „Pablo Diego Jose Francisco de Paula Juan Nepomuceno Maria de los Remedios Crispin Crispriano Santisima Trinidad Ruiz Picasso, geboren am 25.10.1881 in Malaga, Spanien?“ Der Kommissar runzelte die Stirn. „Das erinnert mich irgendwie an Karl May. Sie wissen schon – Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah. Irgendwie seid ihr alle ein wenig durchgedreht, ihr Künstler! Sie bezeichnen sich doch als Künstler, wie ich gehört habe?“
Der kleine Mann vor ihm hörte auf mit dem Fuß zu wippen und schaute ihn freundlich, ja fast neugierig, an. Dann erwiderte er in einer kaum verständlichen Mischung aus Spanisch und Französisch.
„Herr Kommissar, ein Künstler namens Hadschi … ist mir noch nicht begegnet. Selbst Karl May würde ich allenfalls als Lebenskünstler bezeichnen. Aber vielleicht wird irgendjemand in ferner Zukunft Ihre These stützen und behaupten, jeder Mensch sei ein Künstler *. Das Durchgedrehte macht den Künstler aus, und tatsächlich sind wir Menschen – jeder auf seine Art – alle ein wenig durchgedreht, wobei ich Ihnen natürlich nicht zu Nahe treten möchte. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich bin ein verarmter Maler, auch wenn ich mich in einem Selbstportrait mal als „Yo- el rey“ (Ich bin der König) bezeichnet habe. Davon dürfen Sie sich nicht irritieren lassen. Das war nach meinem Debüt auf der Weltausstellung 1900 in Paris. Ich war damals erst 19 und kam gerade von der Kunstakademie „La Lonja“ in Barcelona nach Paris. Der Ruhm ist mir damals zu Kopf gestiegen. Seither ging es ein wenig bergab. Selbst an den Farben musste ich sparen, Herr Kommissar. So malte ich in der Zeit von 1901-1904 fast nur mit blau*, weil ich günstig an die Farbe kam und sie – die Gunst der Stunde aufgreifend – direkt eimerweise erstand. Die zwei Jahre danach kam ich günstig an rosa*. Sie können es meinen Bildern ansehen. Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Und zurzeit, naja. Sagt Ihnen der Name Cézanne etwas? Ein teuflisches Genie, das in seinen Bildern die Natur in Kugeln, Kegeln und Zylinder zerlegt. Mein Freund Georges, Georges Braque, falls Sie schon mal was von ihm gehört haben, wir experimentieren mit seinem künstlerischen Ansatz. Leider ohne allzu großen Erfolg. Man hält mich demzufolge für einen irren Salonkubisten. Aber, die Leute werden sich noch wundern, das verspreche ich Ihnen, Herr Kommissar. Dürfte ich bei der Gelegenheit fragen, warum Sie mich eigentlich vorgeladen haben?“
Der Kommissar zündete sich gemütlich eine Zigarette an. Dann nahm er erneut die Gauloises-Packung vom Tisch, schnippte routiniert mit dem Zeigefinger gegen den Boden der Schachtel und beförderte damit geschickt eine einzelne, filterlose Zigarette zu einem Drittel hervor. Diese bot er mit einem ironischen Lächeln großzügig seinem Gegenüber an.
„Entspannen Sie sich! Welchen Tag haben wir heute, Herr Picasso, oder wie auch immer Sie richtig heißen?“
„Nun, ich würde sagen der 9. September 1911, Herr Kommissar? Oder verwechsele ich das Datum?“
„Nein, nein, genau richtig, Herr Künstler! Was haben Sie am 21. August gemacht? Das will ich von Ihnen wissen!“
„Am 21. August – mmh? Keine Ahnung. Was für ein Wochentag war das?“
„Das war ein Montag. Und bitte, ich will jedes Detail wissen!“
Pablo dachte angestrengt nach: „Bestimmt stand ich morgens oder gegen Mittag auf, putzte mir die Zähne und wusch mir das Gesicht. Danach Frühstück. Croissants, Butter, Café au lait. Hierdurch gestärkt fiel ich wahrscheinlich wieder über meine Freundin Fernande her. Ich vermute, dass ich ihr die Zeitung abnahm, die sie morgens immer liest, ihr die gerade erst frisch angezogenen Klamotten vom Leib riss und sie wieder ins Bett zog. Sie müssen wissen, dass unsere Beziehung gerade irgendwie in der Krise ist. Da muss ich mir eben besondere Mühe geben. Sie verstehen … Wollen Sie wirklich jedes Detail wissen?“
Eigentlich hätten den Kommissar genau diese Details viel mehr interessiert als den Kunstraub, den es aufzuklären galt – wenn er ehrlich zu sich gewesen wäre. Er öffnete seinen obersten Hemdknopf, stand von seinem Sessel auf und stützte sich schweratmend mit beiden Händen auf seinen Schreibtisch. In dieser Sekunde war ihm noch nicht klar, was in ihm vorging, und von Sigmund Freud, der zeitgleich ca. 1.200 km entfernt im Café Central auf der Herrengasse 14 in Wien leidenschaftlich mit Josef Breuer über die Psychoanalyse debattierte, hatte er noch nie etwas gehört. Irgendetwas lief wahrscheinlich in seinem Unterbewusstsein ab, das er nicht fassen konnte. Frustriert hierüber, und weil ihm nichts Besseres einfiel, beugte er sich – soweit es die physikalischen Gesetzte (ohne bäuchlings auf dem Tisch zu landen) zuließen – über den Tisch und überschüttete Pablo gestenreich mit einer so schnell gesprochenen französischen Schimpfkanonade, dass dieser auf seinem Stuhl noch kleiner wurde, als er ohnehin schon war. Obwohl Picasso schon seit elf Jahren in diesem Land lebte, hatte er erst vor Kurzem angefangen, Französisch einigermaßen leidlich zu beherrschen, und das auch nur, weil sein Dichter-Freund Max Jacob darauf bestanden hatte, ihm die Sprache zu lehren. Mit anderen Worten: Picasso verstand kein Wort, aber er war nicht umsonst bereits damals als Visionär bekannt. Mit einem verschämten Seitenblick las er den Namen des Kommissars von einem am Rande des Schreibtisches positionierten, in Messing gehaltenen Namensschildes ab. Also, dieser Kommissar – „L. de Funès“ – hatte eindeutig schauspielerisches Talent. Mochte der Kommissar auch eine künstlerische Karriere durch eine falsche Berufswahl verpasst haben – vielleicht würde eines Tages einer seiner Nachfahren in dem Genre berühmt?! So jedenfalls schoss es Pablo durch den Kopf, während die Worteinschläge und auch der Kommissar selbst näher rückten. Dieser hatte sich nämlich inzwischen mit seinen dünnen aber doch erstaunlich kräftigen Ärmchen federnd von der Tischplatte abgestoßen und denselben weiter schwadronierend und wildfuchtelnd umrundet. Jetzt stand er direkt vor Pablo und stampfte mit den Füßen auf den Boden. Er beugte sich ganz nahe zu seinem Opfer herab, bis Pablo für einen Moment nur noch das jetzt unverhältnismäßig große rechts Auge des Kommissars im Blickwinkel hatte. Das Auge hatte eine wasserblaue Farbe. Plötzlich verschwand das Auge wieder aus seinem Blickfeld, als der Kommissar sich abrupt aufrichtete, eine zackige Drehung vollzog und mit dem rechten Arm auf dem Rücken und erstaunlich langen Schritten begann im Dienstzimmer auf und ab zu marschieren. Weiter schimpfend vollzog er dabei mit der linken Hand ausschweifende, dozierende Bewegungen in der Luft. Aber wie bei einem zugfedergetriebenen Spielzeug verließ den Kommissar allmählich seine Antriebsenergie. Seine Sprache wurde leiser und vor allem langsamer, bis Pablo schließlich einzelnen Wörter wie „Mon Dieu“ und „Non, non, non“ eindeutig identifizierte konnte. Erschöpft ließ sich der Kommissar wieder in seinen Sessel fallen. Er sah Pablo mit abwechselnd hochgezogener rechter und linker Braue skeptisch an und sagte teilweise wahrheitswidrig:
„Monsieur Picasso, ich interessiere mich nicht für die Details ihrer Bettgeschichten. Sie dürfen mich nicht verarschen. Es geht um ein schwerwiegendes Verbrechen.“
„Mr. De Funès, ich will Sie nicht veräppeln. Sie haben gefragt, und ich habe geantwortet! Aber wissen Sie noch, was Sie am 21. August genau gemacht haben. Das ist mehr als 14 Tage her. Sagen Sie mir doch einfach, worum es geht. Vielleicht kann ich Ihnen ja behilflich sein?!“
Der Kommissar zog beide Augenbrauen unisono zusammen und schürzte dabei die Lippen – ein sicheres Zeichen dafür, dass er Picassos Argumente ernsthaft erwog – auch wenn er dabei weniger nachdenklich als schmollend dreinblickte. Verdammt, das Einzige was er vom 21. August tatsächlich noch wusste, war die Tatsache, dass er jedenfalls keiner vollbusigen, gutaussehenden Frau die Kleider vom Leib gerissen hatte. Er dachte an seine Ehefrau und verglich sie unwillkürlich mit Picassos Freundin Fernande Olivier, die bestimmt immer noch vor seinem Dienstzimmer herumtrippelte. Instinktiv sperrte er die Ohren auf, konnte ihre Schritte auf dem Flur aber nicht mehr hören. Bestimmt hatte sie sich ermüdet auf die Besucherbank gesetzt. Er verscheuchte den aufflackernden Gedanken an ihre übereinandergeschlagenen, langen Beine. Vor dem nun einsetzenden Gedanken, wie ungerecht die Welt doch im Speziellen war, schob sich die Frage, wie er am geschicktesten das Verhör fortsetzten sollte.
„Sagt Ihnen der Name Guillaume Apollinaire etwas? Oder vielleicht Géry Pieret, der mit Apollinaire zusammengearbeitet hat. Kennen Sie diese Männer?“
Picasso horchte auf und erwiderte: „Pieret kenne ich nur vom Sehen. Aber selbstverständlich kenne ich Guillaume. Ich meine, wer kennt ihn nicht. Er ist ein fantastischer Dichter und Kunstkritiker, der Begründer des Orphismus und – in aller Bescheidenheit – ein guter Freund von mir!“
Diesmal hob der Kommissar triumphierend nur die rechte Augenbraue und verzog dabei den linken Mundwinkel zu einem angesetzten Lächeln, das ihm einen hinterlistigen Ausdruck verlieh. Gedehnt, und jede einzelne Silbe betonend sagte er: „Pieret ist flüchtig, aber ihren Freund Apollinaire haben wir gestern verhaftet!“ Dabei beobachtete er gespannt wie Picasso sich überrascht aufrichtete und anfing, unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen.
„Nun, Herr Picasso? Fällt Ihnen jetzt ein, was sie am 21. August getan haben? Oder hilft Ihnen vielleicht der Hinweis, dass ihr guter Freund Apollinaire ein Geständnis abgelegt hat?“
Picasso, dem die teilweise harsche Kritik an seinen Kunstwerken mittlerweile ein dickes Fell beschert hatte, sperrte ungläubig den Mund auf. Sein robustes Selbstbewusstsein setzte für einen Wimpernschlag – aber doch lange genug, um bemerkt zu werden – aus. Er räusperte sich und schwieg. Dann legte er erneut die Beine übereinander und betrachtete scheinbar aufmerksam seinen jetzt wieder wippenden rechten Schuh.
Siegesgewiss setzte der Kommissar nach: „Wir wissen alles, Herr Picasso. Sie gehören einer internationalen Diebesbande an, die mit dem Raub der Mona Lisa aus dem Louvre am 21. August 1911 einfach zu weit gegangen ist. Falls Sie noch etwas Rosa aus Ihrer „rosa Periode“ übrig haben, können Sie sich damit demnächst Ihre Gefängniszelle streichen. Kein schlechter Gedanke, auf den bis heute noch niemand außer mir gekommen ist. Rosa beruhigt, habe ich gehört!“
Mittlerweile hatte sich Picasso wieder gefangen. Er stellte beide Beine auf den Fußboden, machte sein Kreuz gerade und sah den Kommissar spöttisch an.
„Mon Commissaire, natürlich habe ich von dem Diebstahl der Mona Lisa in den Zeitungen gelesen. Aber, ich bin Künstler, und ich habe eine Schwäche für schöne Frauen, wovon Sie sich heute selbst überzeugen konnten. Das Letzte, was ich stehlen oder besitzen wollte, wäre dieses, verzeihen Sie meine Respektlosigkeit, schiefe Portrait eines durchaus hässlichen Menschen, von dem man nicht einmal sicher sagen kann, ob es sich um Lisa del Giocondo oder Gian Caprotti, den mutmaßlichen Geliebten von Leonardo Da Vinci handelt. Das Bild ist – offen gesagt – eine unerklärliche Zumutung, egal, ob Kunstkritiker die besondere Perspektive des Blicks, den doppelten Fluchtpunkt oder die verschwommene Sfumato-Technik des Hintergrundes rühmen. Egal ist auch, ob sich die oder der Dargestellte einem im 16. Jahrhundert üblichen Schönheitsideal entsprechend die Augenbrauen rasierte oder diese einfach im Laufe der Jahrhunderte auf dem Pappelholz-Material zur Unsichtbarkeit verblasst sind. Non, mon Commissaire! Damit habe ich nichts zu tun! Damit will ich nichts zu tun haben.“
Picasso hatte sich mittlerweile leidenschaftlich in Rage geredet. Er war sich nicht darüber bewusst, dass er von seinem Stuhl aufgesprungen war und sich nun seinerseits über den Tisch des Kommissars beugte und diesen mit seinem – durchsetzt mit spanischen Vokabeln – miserablen Französisch geradezu runterputzte. Auch war ihm nicht bewusst, dass Angriff zumeist die beste Verteidigung darstellt. Aber sein Angriff wirkte. Kommissar De Funès zuckte zurück, und wenn damals bereits Rollsessel erfunden worden wären, hätte er seinen Sessel im Rückwärtsgang auf sicheren Abstand gebracht. So aber blieb ihm nur die Möglichkeit, sich mit seinen weitaufgerissen, wasserblauen Augen bis zum Anschlag in seine Rückenlehne zu pressen und in Verkennung der Rollenverteilung hilflos zu stammeln: „Mon Dieu, bitte beruhigen Sie sich! Da Vinci hat das Bild verbrochen, nicht ich!“
Bei diesen Worten klickte es bei Picasso. Er setzte sich auf seinen Stuhl und sagte: „Entschuldigen Sie meinen Ausbruch. Aber, wenn es um Kunst geht, kenne ich keine Gnade! Ich will Ihnen aber entgegenkommen. Es ist richtig, und ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Ich habe im Jahre 1907 über Apollinaire, zwei iberische Steinmasken erworben, die dieser von seinem damaligen Mitarbeiter Géry Pieret erhalten hatte. Pieret hat sich in der Tat als Kunstdieb entpuppt. Nach allem, was ich heute weiß, könnten die iberischen Masken also tatsächlich auch aus dem Louvre entwendet worden sein. Weil Apollinaire und ich uns nicht sicher waren, haben wir sie am 5. September zur Redaktion des Paris-Journal gebracht, damit sie ggf. anonym an den Louvre zurückgegeben werden können. Ich versichere Ihnen aber, dass ich beim Ankauf vor 4 Jahren nichts über die Herkunft der Masken wusste. Mehr wird auch Herr Apollinaire in seinem „Geständnis“ nichts zu sagen gehabt haben, da bin ich mir sicher! Mit dem Diebstahl der Mona Lisa habe ich nichts zu tun.“
Kommissar De Funé entspannte sich in seinem Sessel. Der Sturm war über ihn hinweggezogen. Er überdachte die Beweissituation. Pieret hatte den Diebstahl von Kunstwerken vor seiner Flucht öffentlich eingeräumt. Ja, er hatte sogar die Frechheit besessen, eine von ihm aus dem Louvre entwendete Statue zum Paris-Journal zu bringen, angeblich um auf die schlechte Diebstahls-Sicherung des Museums hinzuweisen. Gegenüber den Redakteuren der Zeitung soll er dabei die Mona Lisa erwähnt haben, was den polizeilichen Schluss zuließ, er habe etwas mit dem Diebstahl des Gemäldes zu tun. Aber nur weil Pieret eine zeitlang bei Apollinaire gewohnt und Picasso über Apollinaire Diebesgut erworben hatte, eine Komplizenschaft der drei Männer anzunehmen? Zudem hatte Apollinaire lediglich den durch ihn vermittelten Weiterverkauf der zwei Masken an Picasso bestätigt. Er hatte geblufft, als er von sicheren Beweisen über eine internationale Diebesbande gesprochen hatte. Auch hatte er sich genau über diesen Picasso informiert. Er wusste, dass Picasso zwar in konservativen Kreisen als „entarteter Künstler“ galt. Er hatte aber auch gelesen, dass Picasso mittlerweile zur sog. Avantgarde zählte und regen Umgang mit den zeitgenössischen Intellektuellen um Leo und Gertrude Stein hatte, die in der Rue de Fleurus 27 eine Art Künstlersalon unterhielten. Im Figaro meinte er gelesen zu haben, dass sogar der bekannte Henri Matisse dazugehörte. Wie man es auch drehen und wenden wollte, er hatte keine sicheren Beweise für eine Beteiligung Picassos an dem Diebstahl der Mona Lisa, und er wollte sich in einer unsicheren Zeit nicht die Finger verbrennen.
Alle diese Schlussfolgerungen hatten den Kommissar angestrengt. Er setzte wieder seinen Schmollmund auf und ließ die Arme an den Seiten seines Schreibtischsessels herunterbaumeln. Wenn man es genau betrachtete, hatten sie nicht einmal einen Beweis gegen Pieret und schon gar nicht gegen diesen bescheuerten Dichter Apollinaire. Wie sollte er das seinem Chef beibringen? Er runzelte die Stirn und blickte Picasso, der wieder mit seinen Schuhen beschäftigt war, an.
„Also gut, Herr Picasso! Ich bin geneigt, Ihnen zu glauben. Für heute entlasse ich Sie. Aber Ihren Freund Apollinaire, der unten in der Zelle sitzt, knöpfe ich mir gleich noch einmal vor.“ * Dabei stand der Kommissar entschieden von seinem Stuhl auf und machte scheuchende Handbewegungen in Richtung der Zimmertüre. Dabei sagte er:
„Vite, Vite, verlassen Sie mein Büro. Sie fangen an, mir mächtig auf die Nerven zu gehen, Herr Picasso. Und nehmen Sie ihr Vögelchen draußen auf dem Flur mit. Guten Tag, Monsieur!“
Picasso stand ebenfalls auf, blickte dem Kommissar zum Abschied fest – und auch ein wenig verwundert – in die wasserblauen Augen und verließ wortlos den Raum. Der Flur vor dem Dienstzimmer war leer. Wahrscheinlich war Fernande mal wieder wütend ins nächstbeste Café abgerauscht. Sie hatte einfach keine Geduld mit ihm – diese kleinbürgerliche Zicke.
„Es wird Zeit, dass ich mir ein anderes Vögelchen zulege!“, dachte Picasso, als er das Polizeirevier verließ. Das Bild der schönen Freundin seines Kumpels Louis Marcoussis tauchte plötzlich vor seinem inneren Auge auf. Wie hieß sie doch gleich? Ach ja, Eva Gouel, die wär´s! Gut gelaunt ging Picasso den Boulevard entlang in Richtung Momartre. Er pfiff ein spanisches Liedchen, das ihm einst sein Vater beigebracht hatte und dachte weiter an die schöne Eva. Mal sehen was die Zeit bringen würde.
Zwei Jahre später – irgendwann im Dezember des Jahres 1913 – saß Picasso mit seiner neuen Lebensgefährtin Eva Gouel auf dem roten Sofa in seinem Atelier bei einer Flasche Rotwein. Während Eva den Figaro studierte und ihm einzelne interessante Passagen vorlas, wanderten Picassos Hände unter ihrem hochgeschlagenen Rock langsam aber zielsicher an ihren Oberschenkeln nach oben. „Lass das, du spanischer Strolch!“, kicherte Eva. Dann wurde sie plötzlich ernst und sagte ganz aufgeregt: „Das musst du dir anhören, Pablo!“ Sie nahm seine Hand von ihrem Oberschenkel und faltete die Zeitung, um den Artikel besser lesen zu können, umständlich zurecht. „Sie haben den Dieb der Mona Lisa in Florenz geschnappt! Es handelt sich um einen Vincenzo Peruggia, der mal im Louvre als Glaseinrahmer gearbeitet hat. Er behauptet, das Bild gestohlen zu haben, um es den Italienern als rechtmäßige Erben von Leonardo Da Vinci zurückzubringen.“ Aufmerksam las Eva den Artikel zu Ende. „Es ist unglaublich! Der Gauner wird in Italien mittlerweile als Nationalheld gefeiert.“ *
Picasso stand auf und betrachtete sein Werk „Les Demoiselles d’ Avignon“, das nun schon seit 6 Jahren an der gegenüberliegenden Wand des Ateliers lehnte, ohne jemals ausgestellt worden zu sein. Dabei murmelte er: „Und ich hatte schon gehofft, das hässliche Mädchen, wäre für immer verschwunden!“
Picasso; Les Demoiselles d‘ Avignon; Öl auf Leinwand, 243,9 cm × 233,7 cmMuseum of Modern Art, New York City
P.S: Die Mona Lisa wurde am 31.12.1913 von Italien an den Louvre zurückgegeben, wo sie seither (mit Ausnahme von auswärtigen Ausstellungen) zu sehen ist.
* Das Zitat „Jeder Mensch ist ein Künstler“ stammt von Joseph Beuys anlässlich seiner „Rede über das eigene Land“ vor den Münchener Kammerspielen am 20.11.1985.
* Aus Wikipedia: „Zwischen September 1908 und Mai 1909 sahen sich Picasso und Braque beinahe täglich; Kahnweiler war der Dritte im Bunde und vermittelte zwischen den vom Naturell her sehr unterschiedlichen Künstlern, dem besonnenen, systematisch arbeitenden Braque und dem temperamentvollen Picasso. Ihre Arbeitsgemeinschaft war so intensiv, dass sich die Künstler mit den Brüdern Wright verglichen, den Flugpionieren, und sich wie Mechaniker kleideten.“
* Apollinaire wurde einen Tag später, am 12.9.1911, aus der Haft entlassen. Das Verfahren wurde 1912 aus Mangel an Beweisen eingestellt.
* Aus Wikipedia: „Weil Peruggia das Gericht überzeugte, nicht mit krimineller Absicht gehandelt zu haben, wurde er nur zu einem Jahr und 15 Tagen Haft verurteilt.[1] Nach Berufung durch seinen Verteidiger wurde die Strafe auf 7 Monate und 9 Tage verkürzt. Da er diese Zeit aber bereits in Untersuchungshaft verbracht hatte, konnte er das Gericht als freier Mann verlassen.“
Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Kategorie: Historische Prozesse
Permalink: „Kunstraub“ im Louvre! Stahl „Picasso“ die Mona Lisa? Eine nahezu wahre Geschichte!
Schlagworte: Bateau Lavoir, Cézannes, Fernande Olivier, Georges Braque, Gerd Meister, Gertrude Stein, Guillaume Apollinaire, Henri Matisse, Josef Breuer, Leonardo Da Vinci, Les Demoiselles d’ Avignon, Louis de Funès, Max Jacob, Mona Lisa, Mönchengladbach, Picasso, Rechtsanwalt, Sfumato-Technik, Sigmund Freud, Vincenzo Peruggia
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