Seien wir als Erwachsene einmal ehrlich zu uns selbst und versuchen wir vielleicht Verdrängtes wieder aus unserem Gedächtnis hervorzuholen. Wer als Jugendlicher keine Straftat begangen hat, mit dem stimmt was nicht und seien es auch nur geklaute Kaugummis, frisierte Mofas – oder wie bei mir – 30 Radiergummis, 20 Bleistifte, 17 Spitzer usw. die ein freundlicher Kaufhausdetektiv mit der Frage, ob ich ein Schreibwarengeschäft aufmachen wolle, einst aus meiner Schultasche kramte. Ich jedenfalls erinnere mich noch gut daran, wie ich hiernach peinlich berührt nach Hause fuhr – mit meinem frisierten Mofa ohne Führerschein und Diebesbeute aber mit dem festen Vorsatz, mich nicht noch einmal beim Klauen erwischen zu lassen.
Tatsächlich belegen wissenschaftliche Untersuchungen zu allen gesellschaftlichen Schichten eine Normalität von Jugenddelinquenz als Ausdruck der pubertären Umorientierungsphase, die mit zunehmendem Reifungsprozess auch ohne die im Jugendgerichtsgesetz (JGG) vorgesehenen Mittel zumeist von selbst verschwindet und mithin episodenhaft bleibt. Trotz dieser Erkenntnis wird häufig selbst bei kleineren Verfehlungen strafrechtlich reagiert und schon die beeindruckende polizeiliche Vernehmung und erst recht die gerichtliche Hauptverhandlung sind geeignet, Jugendlichen deutlich vor Augen zu führen, dass der Verletzung von Strafnormen nicht mit Gleichgültigkeit und Inkonsequenz begegnet wird. Dieser Erziehungsgedanke durchzieht das gesamte Jugendgerichtsgesetz, das anstelle der für Erwachsene geltenden Strafrahmen des Strafgesetzbuches (StGB), ein deutlich flexibleres Instrumentarium mit pädagogischem Anspruch zur Verfügung stellt. Im Einzelnen kann man sich hierüber rechtspolitisch und jugendpsychologisch sicherlich streiten und so manche Änderung und Ergänzung wäre aus Expertensicht wünschenswert. Jugendrichter, Staatsanwälte und Verteidiger aber müssen mit diesem JGG leben und können es bei vernünftiger Handhabung auch. Im Einzelnen stellt das JGG dem Jugendrichter für Jugendliche (14 – 17 Jahre) und Heranwachsende (18 – 21 Jahre) folgende Maßnahmen, die z.T. auch kombiniert werden können und deren Nichtbefolgung mit Jugendarrest belegt werden kann, zur Verfügung:
I. Erziehungsmaßregeln (§§ 10, 11, 12 JGG)
1. Weisungen nach §§ 10, 11 JGG
z.B. Weisungen, die sich auf einen bestimmten Aufenthaltsort beziehen
Weisungen bei der Familie oder im Heim zu wohnen
eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle anzunehmen
sog. Freizeitarbeiten, (Arbeitsleistungen) in öffentlichen Einrichtungen zu erbringen
sich der Aufsicht eines Betreuungshelfers, zumeist bei der Jugendgerichtshilfe, zu unterstellen
an einem sozialen Trainingskurs, etwa einem Anti-Gewalt-Training, teilzunehmen
sich um einen Ausgleich mit dem Geschädigten (Täter-Opfer-Ausgleich) zu bemühen
bestimmte Personen oder Orte (z.B. Gaststätten) zu meiden
an einem Verkehrserziehungskurs teilzunehmen
sowie weitere sinnvolle und in die Lebensgestaltung des Jugendlichen eingreifende Weisungen
2. Nach § 12 JGG kann dem Jugendlichen auferlegt werden, nach dem Jugendhilferecht Hilfe zur Erziehung etwa in Form einer Erziehungsbeistandschaft oder der Heimerziehung, z.B. in einer Jugendwohngruppe, in Anspruch zu nehmen.
II. Zuchtmittel (§§ 13, 14, 15, 16 JGG)
1. Verwarnung als richterliche Ansprache mit “erhobenem Zeigefinger”
2. Auflagen, den angerichteten Schaden wieder gut zu machen, sich beim Geschädigten zu entschuldigen, Arbeitsleistungen zu erbringen oder einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu zahlen
3. Jugendarrest in der Form eines Freizeitarrests am Wochenende, als Kurzarrest für 2-4 Tage oder in der Form des Dauerarrests von einer bis vier Wochen – abzusitzen in einer speziellen Jugendarrestanstalt
III. Jugendstrafe (§ 17JGG)
… als das schärfste Instrument (ultima ratio), wenn mildere Maßnahmen aufgrund von eindeutig festzustellenden “schädlichen Neigungen” oder der “Schwere der Schuld” erzieherisch nicht mehr ausreichen. Die Jugendstrafe beträgt mindestens 6 Monate, kann bis zu einer Strafe von 2 Jahren noch zur Bewährung ausgesetzt werden und darf 5 Jahre nur bei sog. Kapitalstraftaten (Erwachsene bekommen dafür mindestens 10 Jahre) auf ein Höchstmaß von 10 Jahren ausgedehnt werden.
Als weitere flexible Besonderheit des JGG ist die so genannte 27er-Entscheidung (§ 27 JGG) und die nach § 57 JGG mögliche “Vorbewährung” zu nennen. Im ersten Fall setzt der Richter die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe für eine bestimmte Bewährungszeit aus, wenn zum Urteilszeitpunkt noch Zweifel an den sog. “schädlichen Neigungen” des Jugendlichen bestehen. Bei § 57 JGG behält sich der Richter die Entscheidung über eine Bewährung vor und gibt damit dem Jugendlichen eine allerletzte Chance, gute Vorsätze innerhalb eines festgesetzten Zeitraums auch umzusetzen und damit die Vollstreckung der Jugendstrafe abzuwenden.
Es ist aber nicht diese eingangs geschilderte “normale” Jugenddelinquenz die ernsthafte Sorge bereitet. Sorge bereiten vielmehr die ca. 5% jugendlichen Intensivtäter, die in hoher Wiederholungsfrequenz mit immer neuen Straftaten – zunehmend aus dem Bereich der Gewaltdelikte – auf der Anklagebank landen und sich dadurch langsam aber stetig den Maßnahmenkatalog des JGG bis hin zur Jugendstrafe “hoch hangeln”.
Dies führt bei populistischen Politikern aller Couleur zu der immer wieder kehrenden marktschreierischen Forderung nach Abschaffung bzw. Verschärfung des Jugendstrafrechts. Verschwiegen wird dabei, die durchaus positive Wirkung des bestehenden Jugendstrafrechts auf die restlichen 95 % junger Menschen und die Tatsache, dass ja auch die durchaus möglichen harten Jugendstrafen offenbar keine abschreckende – pardon – erzieherische Wirkung entfalten. Was also – außer Wählerstimmen – könnte eine Strafverschärfung bringen? Die hohlen Politikerphrasen wollen von der eigentlichen gesellschaftlichen Ursache dieser Besorgnis erregenden Jugendkriminalität ablenken und eindeutige, rein politische Versäumnisse auf dem Rücken der schon ohnehin überforderten Justiz auf eine preiswerte Art aussitzen. Die Ursachen aber sind – wenn auch mit Gehör aber ohne Konsequenzen – sozialwissenschaftlich eindeutig belegt. Auf der Anklagebank sitzen zu einem erschreckenden Prozentsatz von klein auf sozial benachteiligte junge Menschen aus zerrütteten Familienverhältnissen, ohne ausreichende elterliche Unterstützung, mit denkbar schlechten schulischen Startchancen, geringer außerfamiliärer Förderung und wenig Perspektive. Was wäre, wenn die gleichen Politiker ebenso lautstark mehr Geld für sozial benachteiligte Familien, für menschenfreundliche Siedlungen und kinderfreundliche Städte, für mehr qualifiziertes Personal bei den Jugendämtern und Schulen, kleinere Klassen, gezielte schulische Individualförderung Schwächerer, Abenteuerspielplätze, und sinnvollen Jugendeinrichtungen, gezielte Berufsförderung und Chancengleichheit einträten?
Die Antwort ist einfach. Es wäre zu teuer! Wichtigere Projekte, wie z.B. ein millionenschweres Fußballstadion für einen Zweitligisten, noch mehr Straßen, prunkvolle Verwaltungsgebäude und andere Prestigeobjekte könnten nicht mehr finanziert werden. Es müssen eben Prioritäten gesetzt werden. Man verzeihe mir den Sarkasmus. Aber Kinder und auch ungebildete Jugendliche haben ein feines Gespür für Heuchelei und sie wehren sich dagegen – mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. So gesehen kann man die problematische Jugenddelinquenz teilweise als Ausdruck des Protests gegen empfundene Benachteiligung und Ungerechtigkeit betrachten. Sicherlich gibt es auch andere, individuelle Gründe für ein Abdriften von Jugendlichen in ernstzunehmende Kriminalität. Fest aber steht, dass die Justiz, als letztes Glied in der Kette, die aufgeworfenen Probleme allenfalls verwalten, nicht aber lösen kann und dass noch nicht abgestumpfte Jugendgerichtshelfer, Richter, Staatsanwälte und Verteidiger in ihren unterschiedlichen Funktionen die Situation als frustrierend erleben.
Was bedeutet das konkret für den auch im Jugendstrafrecht tätigen Verteidiger?
Einige Verteidiger sehen keinen Unterschied in der Verteidigung von Jugendlichen und Erwachsenen und bestreiten vehement, dass sich der Verteidiger in das kritisierte Erziehungskonzept des Jugendgerichtsgesetzes einbinden lassen soll. Es sei für einen jungen Straftäter eine wichtige Erfahrung, in der bedrohlichen Situation eines Strafverfahrens wenigstens den Verteidiger an seiner Seite zu wissen, der sich im Interesse des Jugendlichen der zweifelhaften Pädagogik der strafenden Erziehung solidarisch und mit allen Mitteln des Jugendgerichtsgesetzes und der Strafprozessordnung widersetze.
Aus unserer Erfahrung heraus – auch als Eltern – betrachten wir unseren Auftrag als Interessensvertreter des jugendlichen Beschuldigten etwas differenzierter. So richtig es ist, dem Jugendlichen das Gefühl von uneingeschränktem Beistand zu geben und ihm trotz seiner Verfehlungen vertrauensvoll die Hand zu reichen, so sehr kann es in seinem wohlverstandenen Interesse sein, ihm, im Einvernehmen mit Eltern, Jugendgerichtshilfe, Jugendstaatsanwalt und Jugendgericht, eine erzieherische Maßnahme zuteil werden zu lassen.
Die Aufgabe des Verteidigers besteht dann nicht darin, den Jugendlichen in einer “Alles-oder-Nichts-Konfliktverteidigung “herauszupauken” sondern eben dieses Einvernehmen unter seiner Beteiligung herzustellen. Als eindeutige Interessensvertreter gelingt es uns zumeist leichter als anderen Verfahrensbeteiligten einen direkten Zugang zum durch das Strafverfahren bedrängten Jugendlichen herzustellen und ihm das Gefühl, er sei als Objekt dem Verfahren hilflos ausgesetzt, zu nehmen. Schon häufig haben wir erlebt, dass der Jugendliche sich so im Gespräch öffnet, seine Position vielleicht zum ersten mal formuliert und letztlich unter Aufgabe einer scheinbar schützenden Trotzhaltung plötzlich zu einer gewissen Einsichtsfähigkeit gelangt, die der erste Schritt zur Besserung ist und eine konstruktive Verteidigung eröffnet. Insoweit wollen wir uns bei geeigneten Fällen durchaus in das Erziehungskonzept des JGG einbinden lassen.
Mit einem gestandenen Verteidiger als Sprachrohr wird das, was der Jugendliche zu sagen hat, jedenfalls ernst genommen. Der Verteidiger sorgt so für rechtliches Gehör. Das schließt nicht aus, dass der Verteidiger mit seinen oftmals notwendigen strafprozessualen Anträgen und Anregungen von Jugendgerichten, Staatsanwaltschaft und Jugendgerichtshilfe als Störenfried empfunden wird, der eingeschliffene Kommunikationsmuster und bequeme Verfahrenstandards behindert.
Insoweit spucken wir – wenn nötig – gerne in die “Bequemlichkeitssuppe”. Ernstzunehmende Jugendrichter wissen hingegen eine konstruktive Verteidigung durchaus zu schätzen und diese wirkt sich für den jungen Mandanten regelmäßig günstig auf das Strafverfahren aus. Besonderen Wert legen wir hierbei auch auf eine frühe Einbindung der mit der Situation zuweilen überforderten und ratlosen Eltern – möglichst schon bei der Mandatsaufnahme. Unabhängig von den Ursachen wirkt sich die Straffälligkeit des Jugendlichen/Heranwachsenden regelmäßig negativ auf die Eltern-Kind-Beziehung aus und auch hier ist – gerade wenn die Fronten bereits verhärtet sind – vermittelnde Vertrauensarbeit notwendig, die auch für die Verteidigung nutzbar gemacht werden kann. Lässt sich nämlich im Verfahren überzeugend vortragen, dass die Eltern in Anbetracht der Straftat nunmehr selbst entscheidende Erziehungsarbeit leisten, reduziert sich das “staatliche Erziehungsbedürfnis” möglicherweise bis auf null, so dass Erziehungsmaßnahmen nach dem JGG überflüssig werden oder jedenfalls nur noch abgeschwächt zur Anwendung gelangen. Frühzeitige und intensive Verteidigergespräche können hierbei – nicht nur im Hinblick auf das Strafverfahren – überaus nützlich sein.
vgl. auch “Jugendstrafrecht – Schule des Verbrechens”
Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Kategorie: Rechtsbereiche
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