Montagmorgen, mal wieder. Es geht um den Vorwurf des Betruges an einem Weinhändler, dessen Weinlieferung über 600 € nicht bezahlt wurde. Neben mir auf der Anklagebank sitzt der kleine, etwas korpulente Angeklagte. Durch ein großes Brandloch im Rückenteil seiner dicken Aldi-Jacke sieht man angesengte Teile des darunter gezogenen Pullis. Jemand hatte ihn vor ein paar Tagen am Bahnhof angezündet. Als er merkte, dass er brandte, wälzte er sich auf dem Boden, um das Feuer zu löschen.Es ist ihm sichtlich peinlich, aber er hat nur diese eine Jacke und seinen ramponierten Pullover. Nervös huschen seine rotgeäderten Augen zwischen Staatsanwalt und Richter hin und her. Mit der Zunge schiebt er sein schlechtpassendes Gebiss immer wieder zurück auf die „Beißleisten“.
Ich berichte dem Gericht, von der Vergangenheit meines Mandanten.
Den vorletzten Winter noch hatte er im Gefängnis verbracht. Im vergangenen Frühling wurde er freigesprochen, weil die Richter den Grund für sein damaliges falsches Geständnis durchschauten. Er hatte nur ein warmes Plätzchen zum Überwintern gesucht.
Heute aber will er nicht zurück ins Loch. Wie ein Schulkind, das endlich einmal die richtige Antwort weiß, sagt er dem Richter artig seine neue Adresse auf.
Ein gewisses Wohlwollen ist dem Richter ins Gesicht geschrieben, und so lasse ich den Angklagten weiter für sich selbst sprechen. Staatsanwalt und Gericht sollen merken, mit wem sie es zu tun haben.
Als wir die 37 Vorstrafen des Angeklagten durchgehen, droht die bis dahin gute Stimmung für einen Moment zu kippen. Ich mache das Gericht auf die in der Vergangenheit eingeholten psychiatrischen Sachverständigengutachten aufmerksam. Bei der letzten Begutachtung wurde dem Mandanten verminderte Schuldfähigkeit attestiert. Langjähriger Alkoholabusus und intellektuelle Defizite hatte ihm der Gutachter bescheinigt. Für diese Diagnose hätte es keines Facharztes bedurft und doch, so lasse ich durchblicken, könnte eine erneute Begutachtung notwendig werden.
Im Vorgriff auf die aktuelle Vorgangsliste, die der Staatsanwalt schon angriffslustig in den Händen hält, beichte ich eine noch nicht im Bundeszentralregister vermerkte neue Vorstrafe des Mandanten – die 38-igste. Er war eine Woche zuvor von einem anderen Gericht wegen Diebstahls zu einer 4-monatigen Bewährungsstrafe verdonnert worden.
Weswegen, will der Vorsitzende wissen. Der Angeklagte stabilisiert mit der Zunge sein Gebiss, konzentriert sich auf seine Antwort und sagt wie ein ernstes Kind: “Da hab ich Lidl leergeräumt. Sachen für 500 €, Kaffee, Salami, Brot, alles für einen Monat. Ich hab jetzt nämlich eine Küche.”
Ich beiß mir amüsiert auf die Lippen und schaue zu meinem im Zuschauerraum sitzenden Referendaren. Auch er ist kurz vor einem Lachanfall und macht in dem Bemühen nicht loszuprusten ein so lustiges Gesicht, dass ich nicht mehr an mich halten kann. Erfolglos täusche ich einen Hustenanfall vor, merke aber sofort, dass es Richter und Staatsanwalt nicht anders geht. Sie ringen um Ernsthaftigkeit. Eine solch entwaffnende Offenheit erlebt man selten im Gerichtssaal.
Was er mit dem bestellten Wein für 600 € gemacht habe, will der Vorsitzende nun wissen. “Alles ausgesoffen!”, sagt der Angeklagte, der über seine eigene Courage und die damit ausgelösten Reaktionen verwundert ist. Er beginnt mit der Situation zu kokettieren.
Am Ende der Beweisaufnahme frage ich den Richter, ob ich den vorsichtig in Aussicht gestellten Beweisantrag auf Einholung eines psychiatrischen Gutachtens zur Frage der Schuldfähigkeit stellen muss.
“Nein!”, antwortet er augenzwinkernd. “Ich neige zu Ihrer Auffassung, dass noch einmal – ein allerletzes Mal – eine Bewährungsstrafe in Frage kommt.”
Aus pädagogischen Gründen beantragt der Staatsanwalt 6 Monate ohne Bewährung. Den Sieg bereits in der Tasche, reihe ich in meinem Plädoyer einige unhaltbare Argumente zur Begründung einer positiven Sozialprognose aneinander und mache dann den Fehler noch einmal einen Blick mit meinem Referendaren zu tauschen. Jetzt kann ich den Lachreiz nicht mehr unterdrücken. Ein schallendes – aber zum Glück ansteckendes – Lachen bricht aus mir heraus. Mit Tränen in den Augen entschuldige ich mich für meine wirklich hanebüchene Argumentation, setze mich und sage:
”Hauptsache das Ergebnis stimmt!”
Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Kategorie: Stories
Permalink: Herr Vorsitzender, da muss ich lachen!
Schlagworte: Betrug, Gerd Meister, Mönchengladbach, Rechtsanwalt, Weinhändler
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