American Rust



Veröffentlicht am 1. März 2015 von

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Mir kommt es so vor, als gebe es immer weniger Romane, für die man Zeit aufbringen sollte. Oder die wirklich guten Bücher sind in der Masse der jährlichen Veröffentlichungen nur noch schwer zu entdecken? Den vom Marketing getragenen Buchempfehlungen will man kaum trauen, und das Leben ist zu kurz, um jeden Quatsch anzulesen. Walter Benjamin hat in seinem berühmten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ darauf hingewiesen: „Der Lesende ist jederzeit bereit ein Schreibender zu werden.“

Ja, es ist gut, dass heute jeder schreiben und auch veröffentlichen kann, und das Wort „Quatsch“ nehme ich hiermit zurück. Aber die Auswahl ist für mich schwierig geworden.

Das Gros meiner Bücher habe ich vor Jahren in das riesige Regal meines Sohnes sortiert, der im gleichen Haus lebt und den Schmökern mit Freude über neuen Lesestoff Asyl gewährt. In meinem eigenen Regal befinden sich nur noch einige Klassiker, Sachbücher und in staubiges Cellophan verpackte Neubücher, die mir irgendwann mal über den Weg gelaufen sind und die mit Gleichmut auf ihr Urteil warten.

Wie lange „Rost“ von Philipp Meyer dort schon stand, weiß ich nicht. Vor einigen Tagen riss ich ihm sein durchsichtiges Schutzkleid vom Laib und schlug den Deckel auf. 2009 wurde es unter dem Namen „American Rust“ von Random House auf den Markt gebracht, und 2010 erschien es erstmals in deutscher Übersetzung.

Der Roman handelt von dem 20-jährigen Isaac, seinem Freund Poe und deren Familien, die noch in der einst prosperierenden Industrie-Stadt Buell in Pennsylvania leben. Die meisten Bewohner sind bereits vor Jahren weggezogen. Die stillgelegten Fabrikanlagen, in denen Stahl produziert wurde, sind mittlerweile von Rost überzogen und werden zunehmend von der Natur überwuchert. Auch Isaac will nach seinem High-School-Abschluss hinaus in die Welt. Mit von seinem Vater gestohlenen 4.000 Dollar und einem Rucksack seiner Habseligkeiten schaut er eines abends zum Abschied bei Poe vorbei, der sich seit seinem Schulabschluss nicht aufraffen konnte, etwas Sinnvolles mit seinem Leben anzufangen. Poe entschließt sich, Isaac auf seinem Weg hinaus aus der Stadt für einige Meilen zu begleiten. Doch bereits nach einer kurzen Strecke kommen sie in ein heftiges Unwetter. Sie suchen Schutz im Büro einer gestorbenen Industrieanlage und geraten dort mit drei Obdachlosen in Streit. In seiner Verzweiflung tötet Isaac einen der Obdachlosen, und das Leben von Poe und Isaac gerät – noch ehe es richtig angefangen hat – endgültig aus den Fugen.

Philipp Meyer beschreibt den Zustand der Stadt und seiner Bewohner in einer wunderbaren Passage:

„Die Bevölkerung des Tals wuchs wieder, aber deren Einkommen sank weiter, alle Haushalte schrumpften, und seit Jahrzehnten war kein Geld mehr in die Infrastruktur investiert worden. Die hatten Kleinstadtmittel für Großstadtprobleme. Nicht mehr lange, sagte Ho, und alles würde kippen. Praktisch alle anderen Städte hier im Tal, mit Ausnahme von Charleroi und Mon City vielleicht, waren schon drüber, und zwar unrettbar. Die letzte Woche war am hellichten Tag in Monessen einem ins Gesicht geschossen worden. So war´s überall, flussauf- und – abwärts, und bei vielen von den jungen Leuten, wenn man sah, wie sie das akzeptierten, ihre nicht vorhandenen Aussichten, das war wie Funken in der Nacht, die dann erlöschen.“

In dem Roman geht es auch um Schuld und Sühne, ein Thema, das etwa anklingt, als Poe über das Verhältnis zu seinem Großvater Hiram und seinem Vater Vergil nachdenkt:

„Am Ende kriegte Hiram das, was er verdiente, und Poe war nicht traurig, dass der Alte weg war. Poe war sieben, er, sein Vater und der alte Hiram drängten sich auf einem Hochsitz, Poe war eingeschlagen, und beim Aufwachen erblickte er einige Hirsche vor dem Hochsitz, sagte, „Guck mal da, ein Hirsch“, womit er sie verscheuchte, war sogar ein großer Zwölfender dabei, und Hiram hatte dann das Tier verfehlt. Poe hörte seinen Vater später sagen, Du bist doch nicht sauer, oder? Er ist nur ein kleiner Junge.` Aber Hiram war stinksauer – auf den kleinen Poe, der zum ersten Mal mit Jagen ging. Zwar kriegte Poe von Virgil ständig Schläge, aber einmal, als Virgil nicht da war, hatte Hiram auch zugelangt. Eines war mal klar, das war nicht Hirams oder Virgils Schuld, es lag im Blut, es war die Schuld von irgendwem, lang vor den beiden. Gott vielleicht.“

Und noch eine letzte interessante Stelle in eigener Sache, die auf diesen großen Roman aufmerksam machen will: Es geht um die Gedanken von Isaacs Schwester Lee, die von den Problemen ihres Bruders erfahren hat:

„Sie legte auf, und Lee stand in der Kälte, in der schwarzen Nacht, die Luft war glasklar, und am Himmel standen helle, kalte Lichtpunkte. Sie ging langsam zum Auto. Das würde sie in dich tragen müssen bis in alle Ewigkeit, darüber würde sie mit niemanden je reden können. Na ja, dachte sie, zumindest weißt du, dass du eine gute Anwältin wirst.“

 

Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

 

 

 


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