Die Ruheaktivität des Gehirns – neuroethische Implikationen; zukünftige Wege zum besseren Verständnis forensisch relevanter Funktionsstörungen; von Dr. med. Birgit Utaka Barnikol



Veröffentlicht am 20. März 2012 von

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Dr.med. Birgit Utako Barnikol ist Ärztin und Neurowissenschaftlerin u.a. an der Universität zu Köln. In dem nachfolgenden Artikel beschäftigt sie sich mit neuen Forschungsansätzen, die auch für die forensische Begutachtung und für die Frage nach dem freien Willen – als Grundlage von Schuld – von Bedeutung sein können.

Die Ruheaktivität des Gehirns – neuroethische Implikationen

Gegenstand aktueller neurowissenschaftlicher Analysen bei psychiatrischen und neurologischen Patienten ist die Untersuchung der Aktivitätsänderungen des Gehirns bei gezielten kognitiven Entscheidungsprozessen nach Exposition externer Stimuli (1). In Metaanalysen bei gesunden Erwachsenen konnte gezeigt werden, dass die Ruheaktivität des Gehirns im Vergleich zu Hirnaktivitäten, die während exekutiver kognitiver Hirnprozesse zu beobachten sind,  erhöht ist (2).

Man bezeichnet diese bei kognitiven Vorgängen erniedrigte Hirnruheaktivität auch als relative Deaktivierung der Ruheaktivität bzw. Inhibition der Ruheaktivität (1,2).

Der Ruhezustand des Gehirns- international auch Default-Mode genannt- spiegelt nach heutigem neurowissenschaftlichem Verständnis eine spontane synchrone Aktivität während entspannter Wachheit, Innenschau, Tagträumen und stimulusunabhängigem Nachdenken wider (2, 3). Die hirnanatomisch strukturell definierten Korrelate des Default-Systems finden sich im frontalen, posterioren und hippocampalen Anteilen des Gehirns wieder und sind  in ihrer intrinsischen Funktion  nach heutigem Wissensstand dem Gedächtnis, sozialer Identität,  Empathie und ‚theory of mind’ (Verstehen der Intentionen anderer Individuen) zuzuordnen (3,4)

Das Default-System unterliegt hierbei signifikanten Reifungsprozessen von der Kindheit bis zum Jugend und Erwachsenenalter (5).

Insgesamt ist während der Adoleszenz eine Zunahme der Konnektivität der Ruheaktivität zu beobachten (6), die

im fortschreitenden Alter im frontalen Cortex und den damit verbundene funktionellen Konnektivitäten wieder abnimmt (7).

Im Vergleich zu gesunden Probanden zeigten vor allem an Alzheimer Demenz Erkrankte eine signifikant verminderte Ruheaktivität und eine verminderte relative Deaktivierung der Hirnruheaktivität durch externe Stimuli und eine gleichzeitige Abnahme der Konnektivität (8,9).

Dieser Befund lässt sich auch schon bei  der leichten kognitiven Beeinträchtigung, die als Vorstufe der  Alzheimerdemenz anzusehen ist, beobachten. Auch bei anderen Ausprägungen der Demenz, wie der frontalen Demenz, die bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen (zb Amyotrophe Lateralsklerose) zu beobachten ist, konnten entsprechende Veränderungen des Default-Systems nachgewiesen werden, die sich insbesondere in einer reduzierten Konnektivität niederschlagen (10).

Bei Erkrankungen des Formenkreises der Schizophrenie, der affektiven Störungen oder der Oligophrenie wie zB dem Autismus vom Kanner Typ, die auch forensische Implikationen darstellen können,  wurden konkret Störungen der Deaktivierung und der Konnektivität des Default-mode beschrieben (11).

Bei affektiven Störungen konnte im Vergleich zu gesunden Probanden eine erhöhte Ruheaktivität des Gehirns beobachtet werden, welche die Untersucher als Korrelat einer bei chronisch depressiven Patienten erhöhten Innennschau mit Grübeleien definieren (11).

Die Default-mode Untersuchungen sind jedoch noch eine sehr junge technisch-funktionelle Disziplin und in der experimentellen Entwicklungsphase, zeigen aber methodisch durchaus einen möglichen zukünftigen Weg in ein besseres Verständnis forensisch relevanter Funktionsstörungen bei kognitiven Entscheidungsprozessen psychiatrisch und hirnorganisch betroffener Patienten auf. Erwähnenswert ist hierbei, dass sich die veränderte funktionelle Konnektivität bei psychiatrischen Erkrankungen wie der Schizophrenie in einer Erhöhung der Frequenz des Default-mode niederschlägt (11), was nach Evaluation der neurowissenschaftlichen Methodik als ein ergänzender objektiv messbarere Parameter bei der Verlaufskontrolle des schizophrenen Formenkreises im Kontext der Sicherungsverwahrung bei Therapieunterbringungsfällen und den Resozialisierungsversuchen diskutiert werden könnte.

Zum anderen könnten Default-mode Analysen die Beantwortung von Reifungsverzögerungen in der Forensik  neben der Erhebung des Zahnstatus und der zum Teil umstrittenen Bestimmung des Knochenalters der linken Handwurzelknochen für die Festlegung des biologischen Reifegrades  flankieren.

Zusätzlich zu Untersucher-abhängigen  neuropsychologischen Testungen und psychopathologischen gutachterlichen Einschätzungen der Reifung- und Entwicklungsstufe von jugendlichen und erwachsenen Straftätern kann der Default-mode hierbei neuroethische Implikationen für die Fragestellung des zeitlich begrenzten Jugendmassregelvollzug mit engmaschigeren Sozialisierungs- und Lockerungsmöglichkeiten und dem Massregelvollzug in der Erwachsenenpsychiatrie  darstellen.

Eine  Frage , die sich im ärztlich-neurowissenschaftlichen und gutachterlichen Alltag stellen kann, ist die Übertragbarkeit neuer wissenschaftlicher Ergebnisse auf die differentialdiagnostische  Anwendung und deren methodische Bedeutung derart zu prüfen und zu hinterfragen, dass diese Ergebnisse in Grenzsituationen nicht zu Ungunsten des Einzelfalls unkritisch übernommen werden können.

Auf der Suche nach Untersucher-unabhängigen Parametern, die technisch neurowissenschaftlich objektiv und quantifizierbar messbar sind, ist die Verführung  gross, sich diesen neuen Methoden zu unterwerfen. Selbstverständlich kann jegliche neurowissenschaftliche Entwicklung z.B. in der Bildgebung  nur ein unterstützendes Werkzeug sein und darf die ärztliche Diagnostik weder überwiegen noch ersetzen (12).

Interessanterweise ist der bildgebenden Methode Positronen Emissions Tomographie (PET )im Gegensatz zu vielen anderen modernen Bildgebungsmethoden die Integration in die klinische Diagnostik vorbildlich gelungen.

Die PET ist eine nuklear­medizinische molekulare Bildgebungstechnik, welche auf der Messung ionisierender Strahlung beruht. Das Verfahren basiert auf der Messung der räumlichen und zeitlichen Verteilung der Markierung von Molekülen mittels radioaktiver Nuklide. Die PET bietet hierbei eine signifikant hohe zeitliche und räumliche Auflösung.

Das nuklearmedizinischen Verfahren PET hat in der Eingrenzung klinisch unklarer ätiologischer Zuordnungen einer Demenz zum Alzheimertyp einen hohen Stellenwert (13).

Die frühe Erfassung der subjektiven und leichten kognitiven Beeinträchtigung mittels den hochsensitiven PET-Untersuchungen (14) hat insofern auch prognostischen Stellenwert, als dass in diesen Stadien neben der konsequenten Behandlung von Risikofaktoren (Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie) noch im einwilligungsfähigen Stadium der Frühdemenz entsprechende Vorkehrungen wie eine Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung getroffen werden kann.

Mittels dem klinisch-neurowissenschaftlich etablierten Verfahren PET konnten die Stoffwechselstörungen bei Schizophreniepatienten bereits valide beschrieben werden (15).

Auch hier sollen die innovativen Diagnostikmöglichkeiten, die in den fachärztlichen Diagnostik-Leitlinien noch nicht etabliert sind,   keine undifferenzierte Euphorie schüren, sondern lediglich auf die ergänzenden Möglichkeiten der Stoffwechselmessungen zur Verifizierung von Neurotransmitterstörungen, die aus forensischer Sicht relevant sein können und mittels PET Markern erfasst werden können (16) hinweisen.

Idealerweise kann die plastische visuelle Darstellung der PET Ergebnisse während der Befundbesprechung auch eine ausschlaggebende psychoedukative Wirkung zur Krankheits- und Behandlungseinsicht bei psychiatrischen und neurologischen Patienten und/oder eine Motivation für die Einleitung einer Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und Betreuungsverfügung in der einwilligungsfähigen Phase des schizophrenen oder frühdementen Patienten (17,18) sein.

In wachsenden Masse wird hier die supportive und gestaltende Rolle des Arztes gefordert, um den neuroethischen Anforderungen im Rahmen der Patientenautonomie gewachsen zu sein.

Je eher die Diagnose Morbus Alzheimer gestellt werden kann, um so bedeutsamer wird der verantwortungsvolle Umgang bei der ärztlichen Betreuung dieser Patienten sein. Diese Aufgabe, die bei der Frühdiagnostik vor allem im ambulanten Bereich angesiedelt ist, erfordert über viele Jahre hinweg eine konstante tragfähige Patient-Arzt-Beziehung (12).

Zugleich ist der Bereich der Krankheitsbewältigung zwischen Frühdiagnostik und klinischer Manifestation eine neuroethische Herausforderung, welche ärztliche Aufklärungsgespräche durch gezielte interdiziplinäre Schulungen und rechtswissenschaftliche Weiterbildungen der Neurowissenschaftler und Ärzte notwendig macht.

 

Literaturverzeichnis

 

1. Buckner RL, Andrews-Hanna JR, Schacter DL (2008). The brain’s default network: anatomy, function and relevance to disease. Annals of the New York Academy of Sciences 1124:1-38.

2. Broyd SJ, Demanuele C, Debener S et al. (2009) Default-mode brain dysfunction in mental disorders: a systematic review. Neuroscience and Biobehavioral Reviews 33: 279-296.

3. Greicius MD, Flores BH, Menon V et al (2007). Resting-state functional connectivity in major depression: abnormally increased contributions from subgenual cingulate cortex and thalamus. Biol Psychiatry 62: 429-437.

4. Raichle ME,  Macleod AM, Snyder AZ (2007) A default mode of brain function. Proc Natl Acad Sci 98, 676-682.

5.    Fair DA, Cohen AL, Dosenbach NU et al (2008). The marturing architecture oft he
brain’s default netowrk. Procl Natl Acad Sci 105: 4028-4032.

6.   Kelly AM, Di Martino A, Uddin LQ et al (2009). Development of anterior cingulate

functional connectivity from late childhood to early adulthood. Cereb Cortex 19:
640-  657.

7.    Damoiseaux JS, Beckamnn CF, Arigita EJ et al (2008). Reduced resting-state brain
activity in the ‚dfault netwirk’ in normal aging. Cereb. Cortex 18: 1856-1864.

8.    Greicius MD, Srivastava G, Reiss AL et al (2004). Default-mode network activity

distinguishes Alzheimer’s disease from healthy aging: evidence from functional MRI.
Proc Natl Acad Sci 101:4637-4642.

9.    Wang L, Zang Y, He Y et al. (2006) Changes in hippocampal connectivity in the early
stages of Alzheimer’s disease: evidence from resting sate fMRI. NeuroImage 31: 496-
504.

10.   Kollewe K, Münte, TF, Samii A et al (2009). Funktionelle Bildgebung bei der
Amyotrophen Lateralsklerose: Analyse der Ruheaktivität. Klein Neurophysiol 40:
263-269.

11.   Otti A., Gündel, H Wohlschlägel, A et al (2012). Default-mode. Netwerk des Gehirns-
Neurobiologie und klinische Bedeutung. Nervenarzt 1 16-24.

12. Heinrichs JH, Langenberg U, Klitzsch, Barnikol UB. 2012 Neuropsychiatrische Gnadenfrist? Zwischen Symptom und Diagnose. Nervenheilkunde, in press.

13.  Herholz K, PET studies in dementia. Ann Nucl Med 2003; 17: 79-89.

14.  McMurtray AM, Licht E, Yeo T et al. Positron emission tomography facilitates diagnosis
of early-onset Alzheimer’s disease. Eur Neurol 2008; 59: 31−37

15. Hurlemann R, Bauer A, Vogeley K, Falkai P, Wagner M, Maier W. (2008) Molekulare
Grundlagen der Schizophrenie. Der 5-HT2A-Rezeptor. Nervenheilkunde 25, 28-31.

16. Silverman DH, Small GW, Chang CY et al. Positron emissions tomography in the
evaluation of dementia: regional brain metabolism and long-term outcome. JAMA 2011

17. Rombouts SA, Barkhof F, Goekoop R et al (2005). Altered resting state networks in mild cognitive impairment and mild Alzheimer’s disease: an fmri study. Hum Brain Mapp 26:231-239.

18.Sorg, C, Riedl V, Muhlau M et al. (2007) Selective changes of resting-state networks in individuals at risk for Alzheimer’s disease. Proc Natl Acad Sci 104: 18760-18765.

 

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Ärztin&Neurowissenschaftlerin

Kerpener Strasse 68

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birgit.barnikol@uk-koeln.de

 

 


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