Mein Kollege Gerd Meister hat gestern im strafblog eine nette Anekdote über den früheren Richter Coenen veröffentlicht, die dem einen oder anderen Leser sicher ein Schmunzeln ins Gesicht getrieben haben dürfte. Ich selbst habe mit demselben Richter auch einige berichtenswerte Erlebnisse gehabt, die ich vielleicht einmal in Blogbeiträge umsetzen werde. Bei einem gedanklichen Streifzug durch meine frühen Anwaltserfahrungen ist mir dann aber der Haftrichter W. in den Sinn gekommen, an dem ich mich als Junganwalt ein Zeit lang abgearbeitet habe, bevor ich realisiert habe, dass die Praxis doch ziemlich anders ist als das, was wir Juristen so als hehre Grundsätze aus dem Studium und vielleicht noch aus dem Referendariat mit ins Berufsleben nehmen.
Zu Beginn meiner Verteidigertätigkeit in den 80er Jahren wusste ich noch nicht allzu viel über die apokryphen Haftgründe und ging voller Naivität davon aus, das bei profaner Kriminalität schon tatsächliche Anknüpfungstatsachen für Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr vorliegen müssten, um einen Haftbefehl zu erlassen. Den Haftgrund „Was für den Jungen das Beste ist“ kannte ich damals noch nicht, und ich dachte auch, dass Beugehaft zur Erlangung eines Geständnisses schlichtweg unzulässig sei. Ist sie ja auch, aber ein Geständnis hat bisweilen ungeheuerliche Auswirkungen auf die Straferwartung, und wenn diese sinkt, dann reduziert sich auch die (oft ohnehin nicht verhandene) Fluchtmotivation, so dass eine Haftverschonung möglich wird. Man muss sich halt nur dieser Erkenntnis beugen…
Richter W. war der erste Haftrichter, mit dem ich zu tun hatte, und was für einer!!! Deutschnational von seiner Gesinnung her, skurril in seinem Erscheinungsbild, weil er Sommers wie Winters immer Sandalen und graue Socken unter seinen Hochwasserhosen trug, ein graumelierter Dreitagebart und eine sonore Stimme, die schrecklich laut werden konnte, wenn er sich erregte. Eigentlich bestand nicht nur in der Anwaltschaft, sondern auch bei den Staatsanwälten und Richterkollegen eine weitgehende Einigkeit darüber, dass der Mann ein Psychopath war, was sich später auch auf tragische Weise bestätigte. Aber die Justiz hat sich schon immer schwer getan, mit ihren Ausfallerscheinungen angemessen umzugehen, und so werden untragbare oder umstrittene Richter oft Jahrzehnte lang durchgeschleppt und auf die Menschheit losgelassen, weil man nicht weiß, was man sonst mit ihnen machen soll, wenn sie erst mal Richter auf Lebenszeit sind. Sie heißen dann z.B. „Richter Gnadenlos“ – die meisten von Ihnen werden wissen, wen ich meine – oder erstatten hunderte von Strafanzeigen wegen Beleidigung gegen Pressevertreter, die über ihre Prozessführung berichtet haben, manche schleppen ihren Alkoholismus durch das Amt, bis sie irgendwann an Leberzirrhose sterben, und so weiter und so fort. Ich rede wirklich von Ausnahmen, die gibt es natürlich auch in der Anwaltschaft und im richtigen Leben außerhalb der Justiz. Bei solchen Richtern ist das Tragische, dass sie die Rechtsmacht haben, Schicksal für andere Menschen zu spielen.
„Herr Verteidiger, hier entscheidet nicht der BGH, hier entscheide ich! Wenn Sie das nicht akzeptieren wollen, dann gehen Sie doch zum BGH und behelligen Sie mich nicht!“, brüllte W. mich an, als ich es in meinem ersten Haftprüfungstermin wagte, mich auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu beziehen. „Das Bundesverfassungsgericht ist für mich kein Gericht, sondern eine Rechtsverhinderungsinstitution“, lautet ein weiteres bemerkenswertes Zitat des Richters aus den Anfängen meiner Tätigkeit. Und weil ich es immer noch nicht kapiert hatte, folgte dann die treffliche Äußerung aus der Überschrift des vorliegenden Beitrags: „Herr Verteidiger, merken sich mal endlich: Ich bin Haftrichter, nicht Ent-Haftrichter!“ Trotz aller Empörung schmunzelte ich innerlich über diese Äußerung, der ich eine gewisse Originalität nicht absprechen konnte. Und ich beschloss, zukünftig anders mit Richter W. umzugehen. Wenn Vernunft und juristische Argumentation nichts ausrichten können, dann muss man halt andere Einfalltore finde, irgendwelche Schwächen hat ja fast jeder. Heute weiß ich, dass erfolgreiche Strafverteidigung nur zu vielleicht 30 Prozent mit abstrakter juristischer Kompetenz zu tun hat, der Rest ist reine Psychologie. Wobei die Beherrschung des juristischen Handwerkszeugs natürlich Grundvoraussetzung bleibt.
Bei Richter W. waren es Witze, möglichst dreckige Witze, die die Tore öffneten. Ich klopfte an seine Tür und trat ein, ohne ein „Herein“ abzuwarten. W. ranzte mich an, ob ich nicht warten könne. „Entschuldigen Sie, Herr W., aber kennen Sie den schon?“, antwortete ich und gab eine Zote zum Besten. „Der ist gut“, krümelte er sich, „da hab´ ich auch einen für Sie“. Ich lachte anerkennend und schlug vor, zur Sache zu kommen. „Welchen Lumpen vertreten Sie?“, fragte W. gnädig. Ich nannte den Namen und meinte, dass man über eine Haftverschonung reden sollte. „Gehen Sie rüber zu den anderen Lumpen von der Staatsanwaltschaft. Wenn Sie die überreden können, werde ich mich Ihrem Komplott anschließen!“, meinte W. leutselig. So bekam ich meinen Mandanten raus. Und viele andere später auch.
In der Gerichtskantine haben wir bisweilen beim Kaffee zusammengesessen. Da kamen dann auch schon mal andere Anwälte oder Richter hinzu. „Was sagen Sie als Nationalist dazu?“, fragte ich W., wenn heikle politische Themen zur Sprache kamen. „Dazu habe ich sicher eine andere Auffassung als eine rote Socke wie Sie!“, antwortete W. mit einem Augenzwinkern. Wir verstanden uns.
W. ist später zu einer gewissen traurigen Berühmtheit gelangt, weil er im Alter von 52 Jahren – wenn ich mich insoweit richtig erinnere – mit seiner Dienstpistole (ja, die hatte er!) zuerst seine hochbetagte Mutter und dann sich selbst erschossen hat. Das hat sogar in der BILD gestanden. Am Gericht haben alle darüber geredet, und natürlich bestand Einigkeit darüber, dass W. schon immer einen an der Waffel hatte. Welcher normale Mann lebt denn noch mit 52 Jahren bei seiner Mutter? Aber Haftrichter sein, das konnte er schon …
Kategorie: Strafblog
Permalink: „Herr Verteidiger, merken Sie sich mal endlich: Ich bin Haftrichter, nicht Ent-Haftrichter!“ – Schlusspunkt eines Lebens mit der Dienstpistole
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