Gestern war er endlich da, der 100. Verhandlungstag im Hamburger Piratenverfahren, nachdem in der letzten Woche noch zwei Verhandlungstermine wegen Verhinderung einer Schöffin abgesetzt worden waren. Nachdem der Vorsitzende bekannt gegeben hatte, dass die Verhinderung dauerhaft sei und deshalb eine Ergänzungsschöffin ab sofort die Aufgaben der bisherigen Hauptschöffin übernehmen werde, wurde die Verhandlung mit weiteren Plädoyers der Verteidigung fortgesetzt. Schade, dass sich nur wenige Zuschauer hinter der Glasabtrennung zwischen dem Gerichtssaal und dem Publikumsraum aufhielten. Es wurde nämlich – so jedenfalls meine Meinung – durchaus großes Kino geboten, das mehr Öffentlichkeit verdient gehabt hätte. Aber vielleicht ist wegen der langen Verhandlungsdauer und der ständigen Ungewissheit, ob der nächste Verhandlungstag denn auch tatsächlich stattfindet, eine gewisse Ermüdung eingetreten.
Ich weiß, dass es durchaus problematisch sein kann, die Plädoyers der Mitverteidiger öffentlich zu kommentieren oder gar zu bewerten. Jeder hat seinen eigenen Stil, seine eigenen Vorstellungen von Strafverteidigung, seine eigenen Charakterzüge und natürlich auch seine eigene juristische und sprachliche Kompetenz – alles Faktoren, welche naturgemäß auch den Schlussvortrag prägen. Und weil die Wahrheit immer im Auge des Betrachters liegt, kann man durchaus zu unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich der Qualität von Vorträgen kommen. Mit den Rechtsanwälten Napp, Beuth und Getzmann waren gestern drei Hamburger Strafverteidiger an der Reihe, die – ich denke, dass ich damit niemandem zu nahe trete – allesamt der linken Strafverteidigerszene zuzurechnen sind und die aus ihrer Grundhaltung auch keinen Hehl machten. Da wurden Fragen nach der Legitimität des Verfahrens gestellt, auch nach der Legitimität der Atalanta-Mission am Horn von Afrika, die weniger die Menschen als mehr die Seewege schütze, Fragen nach dem Sinn und Zweck von Strafe, wenn alle überkommenen Strafzwecke versagen. Es hagelte nachdenkenswerte Kritik an der Staatsanwaltschaft und am Gericht, letzteres vor allem durch Rechtsanwalt Andreas Beuth, der dem Gericht insbesondere vorwarf, bei seinen Haftentscheidungen bezüglich der drei jungen Angeklagten lange Zeit wesentliche Aspekte des Jugendstrafrechts außer Acht gelassen bzw. verletzt zu haben. Inhaltlich deckt sich manches davon mit meinen Rechtsansichten, die ich schon früher deutlich zum Ausdruck gebracht habe, ob die Art der Verbalisierung der Kritik noch angemessen war, muss er selbst vertreten. Von „maßloser Arroganz“ des Gerichts war die Rede, von „Inkompetenz“ und „Anmaßung“, allesamt Vokabeln, die wehtun können und vielleicht auch weh tun sollten(?). Die Richter blieben äußerlich ruhig bei diesen Anwürfen, aber ihre Mimik verriet doch einiges. Und auch wir Anwaltskollegen bekamen unser Fett weg. Es sei nicht lege artis, meinte Beuth, wenn Verteidiger ohne vorangegangene Verfahrensabsprache und ohne zu wissen, welche Rechtsfolge auf ihren Mandanten zukommt, Geständnisse ablegen und aus der Phalanx der Verteidigung ausbrechen. Damit spiele man die Angeklagten gegeneinander aus und der Staatsanwaltschaft in die Hände. Das war vielleicht auch auf mich gemünzt, immerhin waren wir die ersten, die eine Einlassung zur Sache abgegeben haben. Ich habe das in der konkreten Situation gut vertreten können und würde das heute wieder tun, aber so ist das bisweilen: „Zwei Juristen – drei Meinungen“ lautet ein altes Sprichwort und das gilt auch in der Anwaltschaft.
Wenn ich in der Überschrift von „großem Kino“ spreche, dann meine ich damit in erster Linie den Vortrag des Kollegen Manfred Getzmann. Anders als alle Vorredner trug er seine Gedanken völlig frei vor, ohne vorbereitetes Konzept und voller Empathie. Er wisse noch gar nicht so richtig, wie er anfangen solle und er könne auch noch nicht sagen, wie lange er brauche, meinte er einleitend und dann legte er los. Getzmann redet nicht gestelzt oder geschliffen, es hat den Anschein, als forme er die Gedanken beim Reden, er lässt sich treiben und bleibt dennoch auf Kurs. Ja, das Leben der Seeleute am Horn von Afrika ist schützenswert, trägt er vor, da sei er ganz auf der Seite der Mission Atalanta. Schützenswert sei auch das Leben der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer, die von Marrokko, von Libyen, von Mali oder aus anderen afrikanischen Ländern aus in Richtung Europa unterwegs sind, aber da gebe es keine Mission Atalanta. Vielleicht gehe es am Horn von Afrika weniger um das Leben der Seeleute als um den Schutz der Seewege im Interesse der Wirtschaft. Natürlich, die Piraten hätten mit Waffen auf die MS Taipan geschossen, das sei schlimm genug. Aber ob man schon einmal darüber nachgedacht habe, woher die Waffen kommen, fragt er in die Runde, und wie diese nach Somalia gelangt seien. Aus Europa, vielleicht aus Russland oder aus China stammten die Waffen, aus Gründen des Geldverdienens seien sie auf den schwarzen Kontinent gelangt, lautet die Botschaft. Getzmann zitiert aus einem Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz, bei der Frage der Schwere der Schuld komme es auch auf die Motivlage der jugendlichen Täter an. Der Jugendliche aus der Hartz-IV-Familie begehe vielleicht deshalb eine Straftat, weil er auch ein iPhone 4S haben wolle, meint er mit immer höher werdender Stimme, aber das Wort „Hunger“ komme im Kommentar als Tatmotiv nicht vor. „Wissen Sie, was Hunger ist?“, fragt Getzmann und dreht sich mit der Brille in der Hand fast um die eigene Achse. „Haben Sie schon einmal Hunger gehabt?“, wiederholt er, „oder Sie?“ „oder Sie?“ „oder Sie?“ und deutet dabei in alle Richtungen. Nein, wir alle kennen keinen wahren Hunger, meint er, und das unterscheide uns von den Angeklagten, deren Verhalten von einem deutschen Gericht bewertet werden soll. Wie denn, bitte schön, wenn wir die Lebensverhältnisse in Somalia mit Bürgerkrieg, Elend, Hungersnot nicht einmal ansatzweise nachvollziehen können? Seine Stimme überschlägt sich manchmal, er verschluckt Silben und manchmal auch einen halben Satz, weil er sich so richtig reinsteigert in die Vorstellung dessen, worüber er redet. Gut macht er das, finde ich, seine Botschaft kommt vielleicht gerade deshalb an, weil sie engagiert und aus dem Stehgreif heraus unperfekt vorgetragen wird. Getzmann redet mit Herzblut, es würde den Rahmen sprengen, hier alles Gesagte wiederzugeben. Mit seinem Vortrag schafft er es, zumindest für einen Moment das oft kalte Klima eines Gerichtssaals vergessen zu machen und das Menschlische in den Vordergrund zu rücken, auch das Politische, das mit einem Verfahren wie dem vorliegenden zwangsläufig verbunden ist. Ich hätte gerne noch eine Zeit lang zugehört, aber dann war es plötzlich halb fünf und er musste zum Schluss kommen. Allerdings nur für diesen Verhandlungstag, denn es gibt noch mehr Dinge zu sagen, und damit will er morgen um 9 Uhr fortfahren. Ich freue mich drauf und denke, dass dann vielleicht etwas mehr Publikum anwesend sein wird. Immerhin kostet´s ja keinen Eintritt und ist besser als manch ein Theaterstück.
Von den nachfolgenden Kollegen ist sicher auch noch Einiges zu erwarten, aber ich bin ganz optimistisch, dass für mein Plädoyer, das wohl das letzte sein wird, noch etwas Redenswertes übrig bleibt.
Kategorie: Strafblog
Permalink: Das wäre Eintrittsgeld wert gewesen: Großes Kino mit wenig Publikum am 100. Verhandlungstag im Piratenprozess
Schlagworte:
vor: Die Ehefrau erstickt und gekocht und sich dann über die Klippen gestürzt...
zurück: Die merkwürdige Logik des Landgerichts Augsburg in Sachen...