Macht das Sinn? 40-Jähriger nach 25 Jahren angeklagt, weil er als 15-Jähriger der Schwester den Finger in die Scheide gesteckt haben soll



Veröffentlicht am 20. Mai 2014 von

rp_Foto-2-300x216.jpgDie Mühlen der Justiz und der Gerechtigkeit mahlen bekanntlich manchmal reichlich langsam. Wenn sie zu lange mahlen, dann stellt sich die Frage nach dem Sinn von Strafe und Strafverfolgung. Es muss doch irgendwann auch mal Rechtsfrieden einkehren, da sind sich die Gelehrten und das einfache Volk überwiegend einig. Deshalb gibt es Verjährungsvorschriften. Das Strafgesetzbuch unterscheidet zwischen Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung. Die erstere gibt an, wie lange nach Beendigung einer Straftat das Geschehen noch justiziell geahndet werden kann, die letztere, wie lange ein rechtskräftiges Urteil der Vollstreckung zugeführt werden darf.

Bis 1979 gab es in der Bundesrepublik Deutschland für die Verfolgung aller Taten Verjährungsfristen. Selbst Mord verjährte nach 30 Jahren, wobei für nationalsozialistisches Unrecht der Beginn der Verjährungsfrist auf das Jahr 1949 festgesetzt worden war. Weil zahlreiche noch nicht aufgeklärte NS-Straftaten im Jahr 1979 endgültig zu verjähren drohten, hat der Gesetzgeber damals entschieden, dass Mord überhaupt nicht mehr verjähren soll. Das ist bis heute geltendes Recht.

Ich habe anlässlich des Oradour-Verfahrens, in dem ich einen zum Zeitpunkt des schrecklichen SS-Massakers 19-Jährigen verteidige, der heute als 89-Jähriger vor einer Jugendkammer des Landgerichts Köln angeklagt ist, schon einmal die Frage aufgeworfen, ob es wirklich sinnvoll ist, auch die jugendlichen und untergeordneten Befehlsempfänger von damals 70 Jahre nach dem Tatgeschehen noch zu verfolgen. Jugendstrafrecht ist Erziehungsstrafrecht. Welchem erzieherischen Zweck soll es dienen, einen demnächst 90-jährigen Greis zu verurteilen? Gebietet es der Respekt vor den Opfern tatsächlich, nach so langer Zeit auch diejenigen zu verfolgen, die keine Entscheidungsträger oder Systembildner waren?

Vor ein paar Tagen ist mir eine Anklage der Mönchengladbacher Staatsanwaltschaft gegen einen heute 40-jährigen Mann ins Haus geflattert, der vor etwa 25 Jahren seiner damals 5 oder 6 Jahre alten Schwester ganz kurz den Finger in die Scheide gesteckt haben soll. Ein einmaliger Vorfall, wenn er denn stattgefunden hat, der sich unter den damaligen Beteiligten nicht wiederholt haben soll.

Die Verjährungsfrist für solche Taten beläuft sich nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB  auf 10 Jahre. Die sind längst vergangen. Allerdings hat der Gesetzgeber schon vor Jahren in § 78 b StGB bestimmt, dass die Verjährung unter anderem bei Sexualdelikten zum Nachteil von Kindern bis zu deren 18. Geburtstag ruht. Das heißt, dass die Verjährung  mit dem 28. Geburtstag des prospektiven Tatopfers eintrat, wenn sie nicht zuvor durch die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder durch andere gesetzlich im Einzelnen geregelte Maßnahmen unterbrochen worden war. Wenn unterbrochen wird, beginnt die Verjährung von vorne zu laufen, bis maximal zum Doppelten der gesetzlichen Verjährungsfrist.

Im vergangenen Jahr hat der Gesetzgeber den Beginn der Verjährungsfrist noch einmal nach hinten verschoben, und zwar bis zum 21. Geburtstag des Opfers. Danach tritt, wenn zuvor keine Unterbrechung erfolgt, Verjährung mit dem 31. Geburtstag des Opfers ein.

Das Gesetz unterscheidet bei den Verjährungsvorschriften nicht danach, ob der Täter zur Tatzeit Jugendlicher oder Erwachsener war. Ich frage mich, ob eine solche Unterscheidung nicht sinnvoll wäre. Ein 90-jähriger Jugendstraftäter – das ist irgendwie grotesk, finde ich. Ein 40-jähriger wohl auch.  Jedenfalls dann, wenn es nicht um eine Kapitalstrafsache geht.

Im vorliegenden Fall dürfte der Mandant Glück haben. Ich denke, die Staatsanwaltschaft hat bei ihrer Anklageerhebung übersehen, dass die Tat bereits Ende 2011 anlässlich des 28. Geburtstages des Tatopfers verjährt war. Bis dahin war nämlich noch keine Strafanzeige erstattet und kein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Das ist erst Anfang dieses Jahres erfolgt. Die 2013 erfolgte Aufstockung des Verjährungsbeginns konnte die bereits eingetretene Verjährung nicht mehr rückwirkend ungeschehen machen. Das habe ich im Zwischenverfahren vorgetragen und die Einstellung des Verfahrens beantragt. Jetzt warte ich auf die Entscheidung des Gerichts.

Unabhängig von der Entscheidung bleiben aber meine grundsätzlichen Zweifel am Sinn und Zweck der gesetzlichen Verjährungsregeln in Bezug auf Jugendliche bestehen. Der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts kollidiert irgendwann mit dem Zeitablauf. Welche Sanktion, bitte schön, soll Jahrzehnte nach einer Tat unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Schuld noch „erzieherisch geboten“ sein? Irgendwann hören die erzieherischen Einwirkungsmöglichkeiten auf erwachsene Menschen, die das Tatgeschehen längst hinter sich gelassen haben, einfach auf. Für generalpräventive Gesichtspunkte, also für den Abschreckungsgedanken, ist im Jugendstrafrecht nach ganz herrschender Meinung kein Raum.

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