Von einer Saalverhaftung sprechen wir Strafverteidiger, wenn die Mandantin oder der Mandant, die den Gerichtssaals als freie Menschen betreten haben, am Ende der Sitzung verhaftet sind und das Gericht unter Bewachung in Richtung Gefängnis verlassen, anstatt nach Hause zurückzukehren. Bisweilen sind Saalverhaftungen vorhersehbar, manchmal kommen sie überraschend.
Gestern war mal wieder so ein Tag. Die Mandantin, die mit ihrer Familie in Spanien lebt, war in Kenntnis der Tatsache, dass gegen sie mehrere Strafverfahren anhängig sind, nach Augsburg gekommen, um an einer Berufungshauptverhandlung teilzunehmen. Ich selbst war immerhin auch über mehr als 500 Kilometer angereist. Erstinstanzlich war eine Bewährungsstrafe von knapp 2 Jahren verhängt worden, in der Berufung erstrebte die 3-fache Kindesmutter mit meinem Beistand einen Freispruch. Die Verhandlung war durchaus zu meiner Zufriedenheit verlaufen. Der Hauptbelastungszeuge, auf dessen frühere Angaben sich das angefochtene Urteil ganz wesentlich stützte, machte viele Erinnerungslücken geltend und sagte auch ansonsten nicht sonderlich überzeugend aus. Nach meiner Einschätzung ließen sich aus seinen Angaben durchaus günstige Schlussfolgerungen für die Verteidigung ziehen, so dass ein Freispruch erreichbar schien. Gleiches galt auch für andere Zeugenaussagen. Das Gericht konnte sich gleichwohl (noch) nicht zu einem Freispruch entschließen, weil noch weitere Zeugen, darunter auch der angeblich Geschädigte, gehört werden sollen. Also wurde vertagt.
Soweit wäre alles gut gewesen, wenn da nicht nach der Sitzung der Staatsanwalt auf meine Mandantin und mich zugekommen wäre. Man müsse miteinander sprechen, meinte er. Und dann zog er ein zwanzig Seiten umfassendes rosarotes Papier aus der Tasche, das der Experte sofort erkennt: Einen Haftbefehl!
Gleichzeitig wurden wir von 4 oder 5 Männern in legerer Kleidung, die zuvor im Publikum gesessen haben, umringt. Ein leiser Verdacht, der mir schon vorher gekommen war, wurde zur Gewissheit. Polizeibeamte!
„Herr Pohlen, als erfahrener Verteidiger wissen Sie ja, was jetzt kommt“, meinte der Staatsanwalt ebenso freundlich wie bestimmt. Und dann erklärte er die vorläufige Festnahme überreichte den Haftbefehl, der sich auf ganz andere Taten als die, die Gegenstand des Berufungsverfahrens war, und die zum Teil völlig neu für mich waren, bezog. Es bestehe der Haftgrund der Fluchtgefahr, heißt es im Haftbefehl, weil die Mandantin eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe zu erwarten habe und über keine gefestigten sozialen Bindungen im Inland verfüge. Minderschwere Maßnahmen als die Untersuchungshaft reichten nicht aus, der Fluchtgefahr entgegenzuwirken.
Alle Beteuerungen der sichtlich schockierten Frau, dass sie sich dem Verfahren doch auch ohne Untersuchungshaft stellen werde, waren nutzlos. „Herr Pohlen, lesen sie die umfangreichen Akten“, meinte der Staatsanwalt, dann werden sie den Haftbefehl verstehen. „Eine Haftverschonung kommt aus meiner Sicht derzeit nicht in Betracht.“
Nun ist es so, dass Verteidiger Haftbefehle oft genug nicht verstehen, und zwar auch nicht nach dem Aktenstudium. Das liegt nicht daran, dass wir auf der Suche nach dem Verständnis intellektuell überfordert sind, sondern an der anderen Perspektive, mit der wir die Dinge betrachten. Und an einer anderen Gewichtung des Grundrechts auf persönliche Freiheit, in das nicht ohne schwerwiegenden Grund eingegriffen werden darf. Nach meiner Auffassung wird in Deutschland viel zu schnell und viel zu oft verhaftet. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist in der Praxis ein gefährliches Stereotyp und allzu oft müssen Allerweltserwägungen dazu herhalten, diesen zu unterfüttern. In fast 30 Jahren Strafverteidigung habe ich mit hunderten von Haftbefehlen, die auf Fluchtgefahr gestützt waren, zu tun gehabt, aber nur mit ganz wenigen Fällen, in denen Mandanten tatsächlich abgehauen sind. Das liegt eben daran, dass die Leute in Haft genommen wurden und deshalb keine Gelegenheit zur Flucht hatten, wird man mir vielleicht entgegenhalten, aber das stimmt nur ausnahmsweise. Tatsache ist, dass die meisten Menschen, denen Straftaten zu Last gelegt werden, für sich gar keine Möglichkeit sehen, sich dem Verfahren dauerhaft zu entziehen. Familiäre und freundschaftliche Beziehungen, berufliche, sprachliche und kulturelle Einbindungen, fehlende finanzielle Möglichkeiten und vor allem das Bewusstsein, gesucht zu werden und sich mit der permanenten Angst vor Entdeckung verstecken zu müssen, schrecken die Menschen von der Flucht ab. Das gilt für die meisten selbst dann, wenn lange Freiheitsstrafen zu erwarten sind.
Deutschland hat Auslieferungsabkommen mit fast allen Staaten der Welt. Innerhalb der EU werden Europäische Haftbefehle wechselseitig anerkannt und vollstreckt. In Spanien kann man sich als Deutscher kaum besser verstecken als im Inland. Das gilt erst recht für eine ganze Familie mit schulpflichtigen Kindern. Ich habe keinen Zweifel daran, dass meine Mandantin sich den gegen sie anhängigen Verfahren auch ohne Vollstreckung von Untersuchungshaft stellen wird. Daran wird auch die mir gewährte Akteneinsicht nichts ändern können.
Wegen der Saalverhaftung habe ich meine Rückfahrt von Augsburg in meine Kanzlei um einen Tag verschoben. Ich habe gestern noch fast zwei Stunden mit meiner Mandantin in der Gewahrsamszelle des Augsburger Polizeipräsidiums gesprochen und ihr heute morgen bei der Verkündung des Haftbefehls zur Seite gestanden. Während sie jetzt in der JVA Aichach erste Knasterfahrungen sammelt, sitze ich im Zug und lese die mir vom Staatsanwalt zur Verfügung gestellte elektronische Akte. Zwischendurch telefoniere ich mehrfach mit dem Ehemann der Mandantin in Spanien, versuche, ihn zu beruhigen und rede mit ihm darüber, was er den Kindern sagen soll und wie die Angelegenheit weitergeht. Ich verspüre Mitgefühl mit der Frau und versuche, eine Strategie zu entwerfen, die hoffentlich in absehbarer Zeit zu einer Haftverschonung führen wird. Der Staatsanwalt hat mir heute morgen noch gesagt, dass er sich vernünftigen Lösungen nicht versperren wird. Unter gewissen Umständen, versteht sich. Man wird sehen, ob sich die Umstände herstellen lassen. Und ob die Vorstellungen von Vernunft kompatibel sind.
Kategorie: Strafblog
Permalink: So kann´s gehen: Saalverhaftung im Augsburger Landgericht
Schlagworte:
vor: Kein Ermittlungsverfahren gegen Mappus und Häfele wegen EnBW-Deal
zurück: Trotz Bedenken von Datenschützern: Polizei fahndet über Facebook nach...