Sokrates hätte einen guten Strafverteidiger gebraucht!



Veröffentlicht am 17. Februar 2012 von

Quelle: Wikipedia.de

Das von einem athenischen Gericht verhängte Todesurteil gegen Sokrates im Jahre 399 v. Chr. gilt als einer der großen Justizskandale der Weltgeschichte ,und das will bei all den Justizskandalen schon was heißen. Schriftliches ist von Sokrates nicht überliefert und auch Gerichtsprotokolle liegen den Historikern nicht vor. Unser Wissen über diesen Philosophen und seinen Prozess stammt aus den literarischen Andenken seiner beiden Schüler Xenophon und Platon, aus Interpretationen von Cicero, Augustin bis hin zu Erasmus von Rotterdam, der den Tod Sokrates mit dem christlichen Martyrium verglich und in ihm einen Heiligen sah. In der Aufklärung änderte sich dieses Bild. Sokrates wird als Kämpfer gegen christliche und staatliche Bevormundung verklärt, und weil die Gelehrsamkeit des Volkes so schön zur Aufklärungsidee passte, wurde hinzugedichtet, das Volk habe nach dem Tod von Sokrates voller Reue dessen Ankläger mit dem Tode bestraft.

Auch wenn man die Werke der unmittelbaren Zeitzeugen Xenophon und Platon heranzieht, bleibt der tatsächliche dem Prozess zugrunde liegende Sachverhalt kompliziert. Von beiden “Zeugen” existieren Apologien (Verteidigungsreden), die Sokrates gehalten haben soll, aber beide sind sehr unterschiedlich. In fast allen Dialogen Platons taucht Sokrates als Protagonist auf und spielt zumeist sogar die Hauptrolle. Die Dialoge sind voller anschaulicher Details, wodurch ein lebendiges, plastisches Bild gezeichnet wird. Aber inwieweit sind die Dialoge fiktiv? Was wurde dem Protagonisten in den Mund gelegt? Was ist daran sokratisch und was platonisch? Die Zweifel werden noch dadurch verstärkt, dass Xenophon Sokrates – auch in den Details – z.T. ganz anders beschreibt.

Mit aller Vorsicht wird man von Folgendem ausgehen können: Die Anklage gegen Sokrates lautete, er habe nicht an die in Athen anerkannten Götter geglaubt, neue Götter eingeführt und die Jugend verdorben. Ihm wird damit der Straftatbestand der Asebie – also der Unfrömmigkeit vorgeworfen. Von den 501 durch Los aus der attischen Bürgerschaft bestimmten Geschworenen sprachen ihn 280 gegen 221 Stimmen schuldig. Da die Strafe für Asebie im Gesetz nicht festgelegt war, fand eine 2. Abstimmung statt, durch die die Todesstrafe gegen Sokrates festgestellt wurde. Nach Platon soll sich Sokrates mit dem Argument verteidigt haben, er habe stets versucht, die Bürger besser zu machen. Ihm gebühre daher keine Strafe sondern die höchste Ehre der Stadt als Belohnung für sein Tun, nämlich die Teilnahme am täglichen Mahl im Prytaneion, dem Amtsgebäude der obersten Stadtbeamten. Nach Konsultation mit seinen Anhängern soll er für sich dann selbst nur einer Geldstrafe beantragt haben. Doch da war es bereits zu spät. Das Gericht fühlte sich durch sein uneinsichtiges Verhalten verspottet, was auch daran abzulesen ist, dass die Zahl der für die Todesstrafe stimmenden Geschworenen höher war als die, die ihn überhaupt für schuldig befunden hatten. Nach Xenophon soll Sokrates hingegen keinen eigenen Strafantrag gestellt haben, da er damit seine Schuld eingestanden hätte.

Da das Urteil gegen ihn nicht sogleich vollstreckt wurde, hätte Sokrates mit Hilfe seiner Anhänger fliehen können, und wahrscheinlich hätten die Ankläger sogar ein Auge zugedrückt, wenn er ins Exil gegangen wäre. Aber als treuer Athener weigerte er sich und musste schließlich den berühmten Schielingsbecher trinken.

Die Frage, wer Sokrates war, und was ihn für die Athener Bürgerschaft so gefährlich erscheinen ließ ist damit freilich nicht beantwortet.

Sokrates wurde ca. 470 v. Chr. als Sohn eines Steinmetzes geboren. Er erlernte das Handwerk seines Vaters und gehörte damit zur Mittelschicht, die als sog. Hoplit durch ihr Einkommen in der Lage war, sich für den Kriegsdienst selbst auszurüsten. Sokrates muss seine Bürgerpflichten sehr ernst genommen haben. Er übernahm Ämter, die ihm – wie in Athen üblich – durch Los auferlegt wurden und zog sogar für seine Stadt in den Krieg. Seine wahren Interessen gingen aber weit darüber hinaus. Er wollte die Welt verstehen und durchlief deshalb zunächst die Schule des bedeutenden Naturphilosophen Anaxagoras, der damals in Athen lehrte. Schon bald überwand er die naturphilosophischen Spekulationen seines Lehrers und widmete sich den Menschen und ihren Handlungsmotiven.

Athen befand sich damals in einem ungeheuren Aufschwung, der zu neuen Ideen inspirierte. Von einem vor sich hinlebenden Provinzstädtchen hatte sich Athen etwa 10 Jahre vor Sokrates` Geburt zu einer Großmacht entwickelt, die sich mit einer großen Flotte an die Spitze der griechischen Verteidiger gegen die heranrückenden Perser gestellt hatte. Plötzlich musste Athen in seiner Politik das ganze östliche Mittelmeer berücksichtigen und großräumig Kriege planen und verantworten. Die Dynamik der sich ständig ändernden Ereignisse ließ keine Routine mehr aufkommen. Ständig musste improvisiert und neu gedacht werden.

Als Sokrates acht Jahre alt war, wurde die Verfassung umgestürzt und eine konsequente und radikale Demokratie eingeführt. Alle Regierungsentscheidungen wurden von den ungebildeten Handwerkern und Tagelöhnern, die die Mehrheit in der Volksversammlung hatten, wesentlich mitbestimmt. Auch wenn es wundert, funktionierte die Gesellschaft, und Athen blühte auch wirtschaftlich auf. Waren aus aller Welt wurden in der Stadt gehandelt, und Athen wurde zum geistigen Mittelpunkt der griechischen Welt. Das neue Selbstbewußtsein äußerte sich beispielhaft in einem Satz aus einer damals beliebten Komödie, der an die Werbung von Toyota erinnert: “Was ist dieser Stadt zu tun unmöglich?”

Als Sokrates im Jahre 431 v. Chr. knapp 40 Jahre alt war, begann Athen unter Führung von Perikles den großen Peloponnesischen Krieg. Weitere ungeahnte gesellschaftliche Kräfte wurden freigesetzt, und man glaubte selbst Sizilien und Karthago erobern zu können. Je höher die Erwartungen wurden, so empfindlicher die Niederlagen. Die Politik bagann sich zu ändern, wurde unter dem äußeren und inneren Druck willkürlicher, grausamer und ungerechter. 404 v. Chr. folgte schließlich der Zusammenbruch, Sokrates war nun in der Mitte seiner 60iger Jahre.

Wie die damals vorherrschenden Sophisten beschäftigte sich auch Sokrates mit der Relativität aller Standpunkte, und wie sie kam er zur Einsicht in die Fragwürdigkeit alles Gegebenen. Seine Fragen waren kritisch und anspruchsvoll.

Er entwickelte das, was Platon die “sokratische Ironie” nannte. So schmeichelte er in seinen Gesprächen etwa dem kleinen Handwerker, indem er seine Kunst und sein Wissen lobte, um dann aus dem Gespräch heraus einfache Gegenfragen zu stellen – bis offensichtlich wurde, dass die Antworten falsch, unzureichend oder unbegründet waren. Damit wollte er zeigen, dass seine Gesprächspartner letztlich nicht einmal wussten, wie wenig sie wussten. Er nahm für sich in Anspruch, jedenfalls erkannt zu haben, dass er selbst nichts wusste. “Ich weiß, dass ich nichts weiß!”

Die kritischen Fragen, die Sokrates öffentlich diskutierte, wurden zusehends unbequemer. War es richtig gewesen, die seit alterher überlieferten Regeln und Anschauungen einfach durch neue – je nach aktuellem politischen Bedürfnis – schnell zu erlassende Gesetze aufzugeben. Waren diese neuen Gesetze wirklich gerecht? Wie kann etwas gerecht sein, das durch die nächste Mehrheitsentscheidung wieder umgeworfen werden könnte? Wieso beanspruchte der Adel seine ererbten Privilegien, und wie verträgt sich das mit der Demokratie? Nach Platon zielte Sokrates´ wichtigste Frage auf die Demokratie. Wie konnte es richtig sein, dass die Volksversammlung sich bei technischen Fragen – wenn es z.B. um die Wasserversorgung ging – von Fachleuten beraten ließ, bei Fragen zum allgemeinen Wohl und Wehe (Kriegseintritt oder nicht) aber jeder Hinz und Kunz der Volksversammlung mitentscheiden konnte. Auch stellte er die Bestellung der Beamten durch Los in Frage – ohne dass wir heute klar erkennen können, wo genau seine Kritik an den damaligen politischen Verhältnissen ansetzte und welche Alternativen ihm vorschwebten. Fest steht, dass einige seiner Schüler an Versuchen beteiligt waren, die Demokratie zu stürzen und eine oligarchische Eliteherrschaft aufzubauen. So wurde Kritias später der führende Kopf einer Gewaltherrschaft. Er soll behauptet haben, die Götter seien ein Erfindung, damit die Menschen sich auch gut verhielten, wenn keiner zuguckte.

Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund – insbesondere dem Zusammenbruch im Jahre 404 v. Chr. und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Verunsicherung – ist der Prozess gegen Sokrates zu sehen. Die vormalige Großzügikeit und Toleranz der Athenischen Demokratie wurde nach 404 v. Chr. kurzfristig durch eine Gewaltherrschaft ersetzt, bei der 1000 Athener Bürger getötet wurden. Als die Demokratie dann schon bald wieder eingeführt wurde, war sie eine andere, beschränktere. In Zeiten der Turbulenz verlangte man von den Bürgern Wohlverhalten. Sokrates wurde unbequem. Es ging ihm wie vielen Intellektuellen nach ihm. Seine Ideen begeisterten die Jugend und galten bei den Älteren, die noch im Alten verhaftet waren, als zersetzend. Der Vorwurf, Sokrates verderbe die Jugend, ist damit erklärlich, war aber für eine beabsichtigte Verurteilung wahrscheinlich nicht ausreichend. Deshalb schob man den Vorwurf der Unfrömmigkeit nach, der mit Sicherheit bei Sokrates deshalb nicht zutraf, weil er – wie eingangs geschildert – durchaus im Gemeinwesen von Athen verhaftet war. Es ist davon auszugehen, dass der Philosoph – auch wenn er unbequeme Fragen stellte – nicht nur seine bürgerlichen Pflichten überaus ernst nahm, sondern auch die allgemeine Religionsausübung, die seinerzeit zur Infrastruktur der attischen Demokratie gehörte.

Insofern kann man schon von einem Justizskandal sprechen. Das ist um so merkwürdiger, als die attische Demokratie im 4. Jahrhundert v. Chr. der Philosophie gegenüber durchaus tolerant war. Man denke an Sokrates´ Schüler Platon, der allerdings außerhalb von Athen in seiner Akademie duchaus demokratiefeindliche Thesen postulierte. Vielleicht lag es daran, dass Sokrates eine deutlich öffentlichere Person war, die eben innerhalb der Stadt – auf Markplätzen und in Sportstätten – unmittelbar auf seine Zeitgenossen einwirkte.

Und trotzdem wäre Sokrates wohl kaum verurteilt worden, wenn er sich durch Konzessionen an die Ankläger besser verteidigt hätte. “Großsprecherisch” nannte Xenophon ihn in seiner Apologie, und daran dürfte etwas dran sein. Vielleicht trifft Xenophons Vermutung zu, Sokrates habe den Tod gewollt. Gegenüber seinen Jüngern, die ihm zur Flucht verhelfen wollten, soll er geäußert haben, die Gesetze hätten einen Anspruch auf Befolgung, ihnen verdanke er sein ganzes Leben. Durch seinen Tod hat er letztlich gezeigt, dass er bis zum Schluss ein treuer Bürger Athens blieb.

Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

Der Arikel basiert u.a. auf dem Aufsatz „Ein Anschlag der Demokratie auf die Philosophie?“ von Christian Meier erschienen bei C.H. Beck in dem Buch „Große Prozesse; Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte“, München, 3. Auflage 2001;

und

„50 Klassiker Prozesse“ von Marie Sagenschneider, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2002


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