Das Verfahren gegen meinen fast 90-jährigen Mandanten, dem die Anklage die täterschaftliche Beteiligung am schrecklichen Massaker von Oradour zur Last legt, ist noch nicht beendet. Nicht ganz unerwartet haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch mehrere Nebenkläger sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung des Kölner Landgerichts eingelegt, mit welcher die Eröffnung des Hauptverfahrens mangels hinreichender Verurteilungswahrscheinlichkeit abgelehnt wurde. Ich hatte darüber im strafblog ausführlich berichtet.
Die Beschwerdebegründungen liegen mir noch nicht vor. Ich kann mir aber nach intensiver, monatelanger Durcharbeitung der außerordentlich umfangreichen Akten nicht vorstellen, auf welcher Tatsachengrundlage es zu einer Verurteilung kommen könnte. Wie ich schon mehrfach dargelegt habe, bestreitet mein Mandant die ihm zur Last gelegten Taten und nicht wenige Umstände sprechen dafür, dass der damals 19-Jährige tatsächlich auf niemanden geschossen und sich auch nicht anderweitig an den Tötungshandlungen beteiligt hat. Es gibt keine einzige Zeugenaussage und auch sonst keine tragfähigen Indizien, die ihn konkret belasten. Das hat das Kölner Landgericht nach sehr intensiver Prüfung ebenso gesehen und auf immerhin 78 Seiten detailliert dargelegt. Die dürftige Beweiswürdigung in der Anklage umfasst demgegenüber etwas mehr als eine Din-A4-Seite. Nicht gerade viel für den Vorwurf des 25-fachen Mordes und der Beihilfe zum Mord in mehr als 600 Fällen.
Unabhängig von der Frage, welchen Sinn ein Jugendstrafverfahren gegen einen 90-Jährigen mehr als 70 Jahre nach dem Tatgeschehen haben kann, und wie denn heute noch erzieherisch auf ihn eingewirkt werden soll – Jugendstrafrecht ist Erziehungsstrafrecht – gilt auch und gerade bei besonders furchtbaren Straftaten der Zweifelsgrundsatz, wonach nur derjenige verurteilt werden darf, dem seine individuelle Schuld in einem rechtsstaatlich einwandfreien Verfahren ohne vernünftigen Zweifel nachgewiesen werden kann.
Mir liegt ein offener Brief der Vereinigung demokratischer Juristen (VdJ) an den Anklageverfasser, den Dortmunder Oberstaatsanwalt Brendel, vor, in welchem dieser aufgefordert wurde, auf jeden Fall sofortige Beschwerde gegen den Nichteröffnungsbeschluss einzulegen. In dem von der Bundesgeschäftsführerin Ursula Mende unterzeichneten Schreiben heißt es u.a.:
„Im Geiste von Fritz Bauer haben wir in diesem Verfahren eine vermutlich letzte Gelegenheit gesehen, die in Oradour-sur-Glane verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit gerichtlich aufzuklären und damit den Angehörigen und Freunden der Opfer sowie der französischen Bevölkerung insgesamt eine – wenn auch sehr späte – rechtliche Genugtuung für die durch die deutsche Besatzung, insbesondere von der Waffen-SS begangenen Verbrechen zukommen zu lassen. Die Erklärung des Bundespräsidenten in Oradour-sur-Glane vor zwei Jahren gilt noch, dass er mit den Überlebenden und den Familien und Freunden der Opfer die Bitterkeit darüber teilt, „dass die Mörder nicht zur Verantwortung gezogen wurden, dass schwerste Verbrechen ungesühnt bleiben“. Gleichzeitig sehen wir in dem Verfahren eine Chance die in Deutschland und auch in Frankreich immer noch sehr aktiven Leugner der Verbrechen des Nationalsozialismus in die Schranken zu weisen und der historischen Wahrheit Geltung zu verschaffen. Umso bestürzter sind wir über die Bekanntgabe der Nichteröffnung des Hauptverfahrens durch das Landgericht Köln. Wir wünschen Ihnen, dass Sie sich durch diese Entscheidung nicht entmutigen lassen und durch eine sofortige Beschwerde die Voraussetzung für die Verfahrenseröffnung schaffen.“
Als jahrzehntelanges VDJ-Mitglied verstört mich diese Stellungnahme. Natürlich gibt es eine historische Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland, das Oradour-Massaker und alle anderen Nazi-Verbrechen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln aufzuklären. Der Strafprozess kann ein solches Mittel sein, wenn die prozessualen Voraussetzungen für ein Hauptverfahren vorliegen. Allerdings suspendiert die historische Aufklärungspflicht nicht die Strafprozessordnung, wonach ein die Eröffnung des Verfahrens rechtfertigender hinreichender Tatverdacht gegen jeden einzelnen Beschuldigten vorliegen muss. Ich gehe davon aus, dass die VDJ-Kolleginnen und Kollegen, welche das Anschreiben verantworten, im Gegensatz zu mir weder Akteneinsicht hatten noch sich in irgendeiner Weise mit dem Angeschuldigten und seiner Biografie auseinander gesetzt haben.
Es gibt – und das gehört zu den Grundfesten eines demokratischen Strafrechts – keine Kollektivschulderwägungen, die einen konkreten Tatnachweis entbehrlich machen könnten. Die Erwägungen des Landgerichts München im Fall Demjanjuk zur strafrechtlichen Verantwortung von Bediensteten in Vernichtungslagern lassen sich nach meinem Dafürhalten nicht auf die bloße (bisweilen zwangsweise) Mitgliedschaft in der Waffen-SS übertragen. Ich habe dazu schon Einiges im Strafblog geschrieben und auch im Zwischenverfahren dazu vorgetragen.
Die deutsche Politik und die deutsche Justiz haben in der Adenauer-Ära und auch danach jahrzehntelang weitgehend ihre Mitwirkung an der Aufklärung von Kriegsverbrechen verweigert und verantwortliche Haupttäter ungeschoren davonkommen lassen. Ich bezweifele, dass es sinnvoll ist, nach mehr als 70 Jahren die damals noch minderjährigen, subalternen potentiellen Teilnehmer an rechtswidrigen Gewalttaten, deren Schuld zum Teil darin liegen mag, nicht den Mut gefunden zu haben, sich zu widersetzen, strafrechtlich zu verfolgen. Wissen wir, wie wir uns damals verhalten hätten? Wären wir diejenigen, die wir heute sind, wenn wir nationalsozialistisch sozialisiert worden wären? Dürfen wir uns selbst und unseren in einer anderen Zeit entstandenen Widerstandsgeist zum Maßstab machen? Darüber mag man natürlich streiten können. Aber jedenfalls darf das historische Aufklärungsinteresse nicht dazu führen, auf dem Buckel eines Beschuldigten, gegen den bis auf die Tatsache, dass er selbst eingeräumt hat, in Oradour dabei gewesen zu sein, keine konkreten Beweise der Beteiligung an Tötungshandlungen vorliegen, einen rechtsstaatswidrigen Strafprozess zu führen und die Unschuldsvermutung, die auch im Zwischenverfahren zu berücksichtigen ist, zu suspendieren.
Mein Mandant bedient so gar nicht das Klischee eines verbohrten Nazis und Ewiggestrigen, der Schuld auf sich geladen hat und heute nichts davon wissen will. Er ist ein liebenswerter Mensch mit viel Gefühl, der das Geschehen von Oradour entschieden verurteilt und selbst sein Leben lang darunter gelitten hat. Er fühlt sich seit 70 Jahren moralisch schuldig, weil er als 19-jähriger Soldat mit Mannschaftgrad nicht dem Mut hatte, den Mördern offen entgegenzutreten und sich zu opfern. Er hat sich öffentlich im französischen Fernsehen für das Geschehen entschuldigt und seine Empörung und Erschütterung über das Geschehene zum Ausdruck gebracht. Das ist bei Weitem mehr, als andere Beschuldigte getan haben. Aber er hat auch immer wieder betont, dass er in Oradour keinen einzigen Schuss abgegeben habe. Dass er das Glück gehabt habe, nicht schießen zu müssen. Das mag durchaus so sein und lässt sich mit den vorliegenden Beweismitteln nicht widerlegen. Und darauf kommt es , liebe VdJ-Kollegen, an.
Das Kölner Landgericht hat der Versuchung widerstanden, aus politischen Opportunitätserwägungen ein Verfahren zu eröffnen, das ersichtlich nicht zu einer Verurteilung führen kann. Es hat sich außerordentlich intensiv mit der Beweislage auseinandergesetzt und sicher nicht ergebnisorientiert nach Gründen gesucht, das Verfahren nicht eröffnen zu müssen. Die Vorsitzende Richterin, Frau Grave-Herkenrath, ist gänzlich unverdächtig, in die „rechte Ecke“ zu gehören oder an einer Aufklärung von Kriegsverbrechen grundsätzlich kein Interesse zu haben. Aber sie ist auch eine Richterin, die das Strafprozessrecht und die Unschuldsvermutung ernst nimmt. Als Verteidiger und als politisch denkender Mensch, der – was auch meine VdJ-Mitgliedschaft unterstreicht – sicher ebenfalls nicht in diese Ecke gehört, sehe ich das genauso.
Kategorie: Strafblog
Permalink: Staatsanwaltschaft und Nebenklage legen Beschwerde gegen Nichteröffnungsbeschluss im Oradour-Verfahren ein. Ein paar Anmerkungen zur Unschuldsvermutung in NS-Verfahren
Schlagworte:
vor: Zu Neujahr im Knast: „Es gibt kein größer Leid, als das der Mensch...
zurück: Ein wundersamer Geldregen, ein vorübergehender Millionenverlust und 3...