2.252 Seiten Anklage und 6 Jahre Freiheitsstrafe: „Herr Anwalt, ich bin heute ein glücklicher Mann“



Veröffentlicht am 27. Juli 2012 von

Angelo Bronzino - Allegorie des Glücks

Vor ein paar Tagen wurde ich in der Stadt von einem Mann angesprochen, den ich vor mehr als 10 Jahren in mehreren Strafkammerverfahren vertreten hatte. Ich erkannte ihn sofort wieder, so wie er mich erkannt hatte. „Wie schön, Sie zu sehen“, meinte er und lud mich zum Essen ein.

Ich erinnerte mich: 2.252 Seiten umfasste die Anklage in einem der Verfahren, das war das mit Abstand opulenteste Anklagewerk, mit dem ich je zu tun hatte. Mehr als 10.000 Einzeltaten – es ging um Anlagebetrug – waren gegen die 5 Angeklagten konkretisiert worden. Die Anklageverlesung hatte zwei volle Tage gedauert, 2 Staatsanwältinnen hatten sich beim Lesen immer abgewechselt. Die zuständige Strafkammer galt als besonders hart, aber nach ein paar Verhandlungstagen verständigten wir uns für meinen Mandanten auf 3 Jahre Freiheitsstrafe, ein in Anbetracht der Umstände und der Beweislage ausgesprochen günstiges Urteil. Es gab noch einige andere Anklagen gegen den Mann, auch hier ging es um Schäden in Millionenhöhe. In einem weiteren Prozess wurde schließlich unter Einbeziehung der 3 Jahre aus dem Vorprozess eine Gesamtstrafe von 6 Jahren ausgeworfen, ebenfalls nach einer Verfahrensabsprache, die weiteren Verfahren wurden eingestellt. Wichtig für den Mandanten war, dass mit dem Urteilsspruch der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt wurde, so dass er die Strafe als Erstverbüßer im offenen Vollzug antreten konnte.

Ich habe dem Mandanten, nennen wir ihn Herbert K., damals geraten, er solle seine zweifellos vorhandenen Talente, seine Intelligenz, sein kaufmännisches Geschick und die sympathische persönliche Ausstrahlung, die ihm zu eigen war, zukünftig in legale Geschäfte investieren. Dann könne er es sicher zu etwas bringen. Am besten solle er schon im offenen Vollzug beginnen, die Weichen für seine wirtschaftliche Zukunft zu stellen.

„Sie haben Recht gehabt, Herr Pohlen“, sagte Herbert K. zu mir, als wir beim Essen saßen. Und dann erzählte er mir, wie sich sein Leben inzwischen entwickelt hat. Er hat 2/3 seiner Strafe im offenen Vollzug verbüßt. Er ist glücklich verheiratet, hat 2 Kinder, die er liebt und die sein Ein und Alles sind, er hat mehrere Firmen und Firmenbeteiligungen, ist Chef von ein paar hundert Mitarbeitern und hat Kunden, die zur Créme de la Créme der deutschen Wirtschaft gehören. „Ich habe eigene Steuerberater und Wirtschaftsprüfer beschäftigt, die sorgen dafür, dass Alles einwandfrei abläuft“, berichtet K., „bei jeder Steuerprüfung lehne ich mich entspannt zurück und weiß, dass alles in Ordnung ist“. Sein Business ist heute international angelegt, aber er will sich demnächst aus dem operativen Geschäft zurückziehen, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Und karitativ möchte er sich betätigen. „Wissen Sie, Herr Pohlen,“ meinte K., und seine Augen leuchteten dabei,  „heute bin ich ein glücklicher Mann, der Alles erreicht hat, was er sich einmal erträumte. Mit eigener Leistung und ganz legal. Ich weiß, dass das nicht immer so war. Und ich möchte Einiges von dem wiedergutmachen, was ich damals angerichtet habe.“

Das Essen war gut und auch die Flüssigkeit, mit der wir einander zugeprostet haben. Ich bin mit einem zufriedenen Gefühl zurück in die Kanzlei gefahren. So etwas nenne ich gelungene Resozialisierung. Ich verspüre ein ganz klein bisschen Neid, weil ich mich nicht in der Situation sehe, mich aus dem „operativen Geschäft“ zurückzuziehen und mich überwiegend karitativ zu betätigen, obwohl ich fast 2 Jahrzehnte älter bin als K.  Andererseits… ich arbeite ja gerne.

So hat halt jeder seine eigene Geschichte.

 


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