„Aliquid semper haeret“ – Irgendetwas bleibt immer hängen. Die BILD-Berichterstattung über einen Freispruch im Missbrauchsprozess



Veröffentlicht am 26. Juli 2014 von

Rainer Pohlen

Rainer Pohlen

Immerhin hat BILD  in einem Beitrag über ein Missbrauchsverfahren gegen einen 51-jährigen städtischen Angestellten aus St. Wendel vorsichtig getitelt: „Stadt-Angesteller (51) soll Tochter sexuell missbraucht haben“ heißt es in einem Online-Bericht des Boulevardblattes vom 14.7.2014, und unter der Schlagzeile findet sich ein nur mäßig verpixeltes Foto des neben seinem Verteidiger sitzenden Angeklagten, der darauf sicher von jedem, der ihn kennt, zu identifizieren ist.

Weniger zurückhaltend hatte BILD vor einiger Zeit über einen von mir verteidigten 89-jährigen Kölner berichtet, indem über einem völlig unverpixelten Foto in einer französisch-sprachigen Textausgabe die (hier ins Deutsche übersetzte) Schlagzeile plaziert wurde: „Ein Kriegsverbrecher geht einkaufen“. Ganz indikativ und unbestreitbar las sich das. Ich habe wegen der Berichterstattung eine einstweilige Verfügung gegen BILD erwirkt und darüber mehrfach im strafblog berichtet. Das zivilrechtliche Verfahren ist – nachdem die einstweilige Verfügung im Widerspruchsverfahren bestätigt wurde – derzeit in der Berufung anhängig.

Von „unfassbaren Vorwürfen“ ist in dem  oben zitierten BILD-Beitrag über den Mann aus St. Wendel die Rede. Die Worte „unfassbare Vorwürfe“ sind fett gedruckt, und dann wird – ebenfalls in Fettschrift – der Oberstaatsanwalt Adolf Brass zitiert: „Er verlangte von ihr, ihn im Genitalbereich zu streicheln, fasste ihr auch an den Intimbereich, Brust und Po“. Da haben wir den Indikativ, diesmal aber in Zitatform, ergänzt durch die Worte: „Später soll es mehrfach zum Geschlechtsverkehr gekommen sein.“

Immerhin, dem die Tat bestreitenden Angeklagten wird auch Raum gegeben. Der Mann habe kopfschüttelnd gesagt: „Es bleibt dabei, ich habe nichts gemacht.“ Von den Anschuldigungen sei er völlig überrascht gewesen.

In der heutigen Online-Ausgabe berichtet BILD, dass der Mann nach 6 Verhandlungstagen und zahlreichen Beweisanträgen freigesprochen wurde. „Missbrauch an der Tochter? Vater freigesprochen!“ lautet die Schlagzeile, und darüber steht in roten Buchstaben „Aussage gegen Aussage“.

„Was wahr ist, haben wir letztlich nicht feststellen können“, wird der Vorsitzende Richter Andreas Lauer zitiert. Er gehe davon aus, dass die Tochter vor Gericht „nicht in allen Punkten“ die Wahrheit gesagt habe. In welchen Punkten denn doch, wird nicht berichtet. Und der zuvor im Indikativ zu Wort gekommene Oberstaatsanwalt Brass, der wie die Verteidigung Freispruch beantragt hatte, wird erneut zitiert: „Es steht Aussage gegen Aussage. Der Angeklagte allein weiß, was passiert ist…“

Letzteres kann bezweifelt werden. Die Tochter dürfte wohl auch wissen, was geschehen ist, und ob – und vielleicht auch warum – sie möglicherweise gelogen hat. Ich habe als Verteidiger in diesem Deliktsbereich schon erstaunliche Dinge gehört.

BILD hat mit der zitierten Berichterstattung jedenfalls dazu beigetragen, dass der Tatverdacht deutlich im Raume hängenbleibt. Kein Wort dazu, dass der Mann  nun als unschuldig zu gelten hat. Und dass ihm mit der Anklage möglicherweise schreckliches Unrecht geschehen ist. „Aliquid semper haeret“ – Irgendetwas bleibt immer hängen, lautet ein lateinisches Rechtssprichwort, und das gilt wohl nirgendwo mehr als beim Vorwurf von Sexualdelikten. Und bei BILD-Berichten zu diesem Thema.

Wenigsten gibt BILD abschließend auch dem Verteidiger Stephan Stock noch die Möglichkeit zu einer Äußerung. Der habe nämlich in seinem Plädoyer das Jugendamt kritisiert, das bei der Trauma-Therapie der 17-jährigen Tochter den Vater als Täter abgestempelt habe, ohne jemals mit ihm gesprochen zu haben. Das ist eine Erfahrung, die ich als Verteidiger in eigenen Verfahren auch schon wiederholt gemacht habe.

 

 


Kategorie: Strafblog
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