Alle Hühneraugen zugedrückt: „Eigentlich habe ich mich seit dem Jahr 2000 immer legal verhalten, Herr Richter …“



Veröffentlicht am 21. August 2012 von

 

Quelle: wikimedia commons

 

….. meinte mein Mandant in der gestrigen Hauptverhandlung und schaute den Direktor des Amtsgerichts Witten in dessen Funktion als Vorsitzender des Schöffengerichts treuherzig an. „Eigentlich … ja eigentlich  sollten wir mal einen Blick in ihr Strafregister werfen“, antwortete der erfahrene Richter milde lächelnd und verlas durchaus genüsslich ein gutes Dutzend Eintragungen aus dem Bundeszentralregister, die  seit der Jahrtausendwende zusammengekommen waren. „Das waren ja fast nur Verkehrsdelikte“, gab der 40-jährige Familienvater zu bedenken. „Ach so, und die zählen nicht!“, erwiderte der Vorsitzende, „aber ich lese gerne noch einmal vor“. Unter den Eintragungen befanden sich neben diversen Verkehrsdelikten wie Fahren ohne Fahrerlaubnis, Nötigung im Straßenverkehr etc. auch Eintragungen wegen Beleidigung, Unterhaltspflichtverletzung und Betrug in mehr als hundert Fällen, wobei der letztgenannte Vorwurf immerhin mit einer zweijährigen Bewährungsstrafe belegt worden war. Die Bewährungszeit war zwar abgelaufen, die Strafe war aber im Hinblick auf das jetzt anstehende Verfahren noch nicht erlassen worden.

„Zu dem Fahren ohne Fahrerlaubnis ist es nur gekommen, weil mein Onkel gestorben war“, erklärte mein Mandant, „ich musste dringend zu meiner Tante fahren. In so einer Situation denkt man nicht daran, dass man wegen eines Fahrverbotes nicht fahren darf!“ „So so, da denkt man nicht dran“,  räsonierte der Richter, „da fährt man dann einfach los!“.

Ich gab zu bedenken, dass mein Mandant sich aufgrund einer depressiven Erkrankung in Behandlung befinde und bisweilen Schwierigkeiten habe, Realitäten einzuschätzen. Deshalb regte ich ein Rechtsgespräch an. Die aktuellen Anklagevorwürfe lauteten auf Sozialhilfebetrug, Sachbeschädigung und Ladendiebstahl.

Das Gericht hielt ein Rechtsgespräch für keine schlechte Idee und deshalb zogen wir uns mit der Staatsanwältin und den Schöffen ins Beratungszimmer zurück. Den Zahn einer Freispruchverteidigung müsse er mir ziehen, meinte der Vorsitzende, als ich anhub, eine Verteidigungslinie zu entwerfen. Ich ließ erkennen, dass mein Mandant durchaus mit einer Bewährungsstrafe leben könne, die bei geständiger Einlassung vielleicht möglich sein sollte. Trotz hochgezogener Augenbrauen auf Seiten des Gerichts und nicht unerheblicher Bedenken auf Seiten der Staatsanwaltschaft haben wir uns letztlich auf eine in Anbetracht der Gesamtumstände moderate Bewährungsstrafe verständigt, die dann auch ausgesprochen wurde. Die zahlreichen geladenen Zeugen konnten nachhause geschickt werden, ohne angehört werden zu müssen. Das wurde strafmildernd anerkannt.

Bei der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung habe das Gericht „alle Hühneraugen zugedrückt“, meinte der Richter in der mündlichen Urteilsbegründung. Schön sei das nicht, was da passiert sei, und der Steuerzahler, also wir alle, trügen den Schaden. Vielleicht würden die Kinder des Angeklagten anders als ihr Vater später ja auch einmal Steuern zahlen müssen …


Kategorie: Strafblog
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