I. Das Videoclip
Strathmann fühlte sich als sei er den Nachmittag über in einer Höhle angekettet gewesen. Er wusste, es war eine Illusion, aber sie war verdammt real und sie verdichtete sich in seinem Kopf zu einem surrealen Film.
Sein Gefängnis war mit einer Dolby-Surround-Anlage ausgestattet, aus deren Lautsprechern unentwegt die Stimmen von Kater Karlo, Minnie Mouse, Daisy Duck und Verona Pooth drangen. Auf einem riesigen 3D-Bildschirm tanzten sie in ihren grellbunten Zwergenkostümen vor seinen Augen und grölten dabei schreckliche Lieder. Zuletzt war nur noch Verona auf dem Bildschirm, die in einer Endlosschleife immer und immer wieder das Schlumpflied sang. An Stellen, wo Michael Jackson mit einem Griff an die Eier elegant hochgesprungen wäre, um sein „Hihhh“ auszustoßen, hörte er bei Verona allerdings nur ein noch höheres „Blubb“, das in Richtung des viergestrichenen C ging. Auch tanzte sie bei weitem nicht so gut wie Michael. Die Kamera zoomte sie immer näher heran und als es Strathmann schließlich so vorgekommen war, als stampfe eine mit hochgereckten Armen tanzende Kreissäge bedrohlich vor seiner Nase, wurde er plötzlich wach und starrte die Mandantin mit so irren Augen an, dass sie zum ersten Mal seit einer Stunde Luft holte und verstummte. Unter einem Vorwand beendete er die Besprechung und komplementierte die Nervensäge hinaus. Er schloss hinter ihr die Türe und zählte langsam bis 50. Jetzt konnte er sicher sein, dass sie nicht noch auf dem Bürgersteig auf ihn lauerte. Fluchtartig verließ er das Büro und trat auf die Straße. Strathmann war so unruhig und aggressiv wie ein 6-jähriges Kind, das den ganzen verregneten Sonntag vor der Glotze verbracht hatte, und sollte die ältere Dame, die jetzt gerade mit ihrem Dackel auf ihn zukam, auch nur sagen – „Guten Abend, jetzt erst Feierabend!“ oder so was Ähnliches – würde er ihr wahrscheinlich das teure Gebiss aus der freundlich lächelnden Fratze schlagen. An seinem Gesichtsausdruck musste die Dame erkannt haben, dass sie besser die Klappe halten sollte. Sie zog die Hundeleine kürzer, um ihren kleinen Kläffer vor einem sicheren Tritt zu schützen und ging achtlos an ihm vorbei. Strathmann rieb sich die Handgelenke. Seine Hände waren heiß. Wenn er sie zur Faust ballte, färbten sich die Knöchel weiß, und es entstand so ein juckendes Gefühl, als müssten sie, in dem Moment wo er die Handinnenfläche mit seinen eigenen Nägeln durchstieße, explosionsartig niesen. Er blinzelte in die Abendsonne und schloss seinen PKW auf. An Tagen wie diesen, konnte Strathmann richtig wütend sein.
Er stieg in seinen wenig gelittenen, silbernen 500er CL und suchte das 2. Stück auf der eingelegten „Nighthawks Live in Hamburg – Master Consul“, drehte die Lautstärke auf 12 und fuhr nach Hause. Jürgen Dahmens fantastisches Fender Rhodes schlug gegen seine Trommelfälle und brachte seine Brust zum Beben, und obwohl man anderes hätte erwarten müssen, tat ihm die Musik gut. Zumindest überdeckte sie den Ohrwurm vom Schlumpflied. Was war das für ein Tag gewesen. Das Gesetzt der Serie hatte mal wieder erbarmungslos zugeschlagen. Im Rückblick durchlief er den Nachmittag.
II. Der verlorene Nachmittag
Seine 15-Uhr-Mandantin war eine sexy gestylte Mittdreißigerin, die ihm wie auf einem Laufsteg mit klackenden Stakkato-Stöckelschuhen vom Wartezimmer in sein Büro folgte und dabei ostentativ mit einem Beratungshilfeschein in der Hand wedelte. Ausgehend von ihren finanziellen Mitteln und der Stoffmenge ihres Minirocks, stellte er die Vermutung an, sie habe sich den Rock aus einem dieser kleinen Gäste-WC-Handtücher um die Hüften getackert, was ja immerhin für ein gewisses Improvisationstalent sprach. Wahrscheinlich weil er über keinen Glastisch verfügte, rückte die Frau ihren Stuhl so weit von der ihm gegenüberliegenden Tischkante weg, dass er nicht umhin kam, ihre langen, übereinander geschlagenen Beine zu betrachten. Ihn überkam die Ahnung, dass sie gleich galant ihre Sitzposition ändern würde, um ihm einen Blick unter das WC-Handtuch zu gewähren. Die Frau musste seine Ahnung erraten – wenn nicht sogar suggeriert – haben, denn nun lächelte sie ihn mit einer Mischung aus Koketterie und Triumph an, machte ein Hohlkreuz, um auch ihren üppigen Busen besser zur Geltung zu bringen und begann in epischer Breite ein tragödienhaftes Beziehungsproblem zu schildern. Mit hilflosen sporadischen Einwänden versuchte er sich gegen ihren Redefluss zu stemmen, aber die Frau ließ ihm keine Chance. Sie wollte partout nicht hören, dass er kein Familienrecht machte. Unter Aufbietung ihres gesamten weiblichen Waffenarsenals versuchte sie ihn zur Übernahme des Mandats zu überreden, und als er ihr zum x-ten Male kraftlos das Wort „Strafverteidiger“ entgegen geschleudert hatte, spülte sie seine Argumente mit aberwitzigen strafrechtlichen Bezügen weg. Vielleicht wegen ihrer Stimme oder ihres Sexappeals tauchte für den Bruchteil einer Sekunde erstmals das Bild von Daisy Duck vor seinem geistigen Auge auf. Aber diesmal blieb Strathmann standhaft und verwies sie letztlich an einen versierten familienrechtlichen Kollegen. Sollte der doch in die Honigfalle tapsen. An der Türe reichte sie ihm mit Tränen in den Augen die Hand und fragte ihn, ob er es sich nicht doch noch überlegen wolle. Mit treu blinzelnden Daisy-Augen steckte sie ihm eine selbst entworfene Visitenkarte zu. Sobald sie den Raum verlassen hatte, zerriss er die Karte zur eigenen Sicherheit vorsichtshalber in kleinste Schnipsel und entsorgte sie umgehend im Papierkorb. Es war lange her, dass er auf so einen Scheiß reingefallen war.
Zu seiner Überraschung waren die 16-Uhr-Mandanten – ein Bonnie und Clyde – Pärchen – das bereits dreimal vorher unentschuldigt Termine nicht wahrgenommen hatte, diesmal da. Er suchte ihre Akten aus seinem Besprechungsstapel heraus und stellte fest, dass sie ihm mittlerweile 8 Verfahren wegen Diebstahls, Einbruchs und Betruges eingebrockt hatten, die in den unterschiedlichen Akten mit komplizierten Verbindungsbeschlüssen teilweise zusammengeführt worden waren. Da er sich diesmal nicht auf die Besprechung vorbereitet hatte, blätterte er auf der Suche nach einer sinnvollen Struktur lustlos die Akten durch. Seine Finger glitten widerwillig über das Papier. Sie waren trocken und stießen jedes Mal kaum hörbare, kleine Schmerzensschreie aus, wenn er eine Seite umblätterte. In diesem Moment klopfte es leise an der Türe und Daisy, die Venusfalle von soeben, steckte ihren Kopf ins Zimmer. „Entschuldigen Sie! Ich habe, glaube ich, mein Handy hier vergessen?!“, sagte sie. Strathmann bat sie herein und gemeinsam mit Bonnie und Clyde blickten sie hinter die auf dem Schreibtisch festgewachsenen Aktenberge, hoben Papiere an und scannten den Teppichboden unter dem Tisch. Mit einem Seitenblick meinte Strathmann bei Bonnie eine graduelle rötliche Gesichtsverfärbung festgestellt zu haben und plötzlich erschien ihm ihre eifrige Suche verdächtig. Ein hinterlistiger Gedanke blitzte in seinem Hirn auf. „Das haben wir gleich!“, sagte er und nahm sein eigenes Handy vom Tisch auf. „Ich rufe Sie kurz an. Wie war doch noch gleich ihre Nummer?“.
„Ich habe Ihnen doch gerade meine Visitenkarte gegeben. Da steht sie drauf!“.
Jetzt war es an Strathmann seine Gesichtsfarbe unter Kontrolle zu halten. „ Ach, sagen Sie sie mir doch schnell. Bis ich die aus meiner Visitenkartenkiste gefischt habe …“ improvisierte er schnell. Daisy diktierte ihm die Nummer ins Display, aber noch ehe ihr Telefon zu klingeln begann, sprang Bonnie wie Minnie Mouse mit noch röterem Gesicht von ihrem Stuhl auf. „Das gibt´s ja gar nicht, ich sitze die ganze Zeit auf dem blöden Ding!“ piepste sie verlegen. Mit einer Art Knicks überreichte sie Daisy das Handy, die es mit überschwänglichen Dankesbekundungen in ihre Handtasche stopfte und mit ihren jetzt durch den Teppichboden gedämpften High-Heels aus dem Zimmer wackelte und wieder erschien für einen kurzen Augenblick eine Fata Morgana. Er meinte, er sähe einen Bürtzelarsch hinter der Türe verschwinden. Strathmann rieb sich die Augen und fixierte Bonnie mit einem kalten Blick. Dann ergriff er demonstrativ sein in Reichweite von Bonnie gelegenes Portemonnaie und legte es auf das hinter seinem Stuhl befindliche Siteboard. Mit einem übertriebenen raschen Schwung seines Drehstuhls wandte er sich an seinen Computer und rief die Mandantenbuchhaltung auf. Mit einem wissenden Grinsen fragte er: „Wie kommt es eigentlich, dass sie den schon 5 Mal angeforderten Vorschuss noch nicht bezahlt haben?“ Clyde, der schon die ganze Zeit unentwegt irgendeinen Blödsinn geplappert hatte, versuchte Strathmanns Bemerkung wegzuplappern, wobei der Begriff „Plappern“ eigentlich nicht zur Stimmhöhe des Mandanten passte. Es war eher ein tiefes Brummen, welches ihn unwillkürlich an Kater Karlo denken ließ. Strathmann überlegte, ob er die Besprechung nicht besser hier und jetzt abbrechen sollte. Aber dann hätte er die schrägen Vögel nächste Woche wieder hier sitzen, also fing er an, die Akten mit ihnen durchzugehen.
„Den Tankbetrug haben Sie definitiv nicht begangen? Sie waren noch nie an dieser Tankstelle?“, fragte er Clyde. „Wie kommt es dann, dass Sie hier auf dem Bild der Videoüberwachung so vortrefflich mit dem Tankstutzen in der Hand getroffen sind?“ Strathmann zeigte ihm das Bild und Clyde revidierte ohne Übergang seine Behauptung. „Aber, niemals habe ich für 50 € getankt. Ich tanke immer nur für einen Zehner!“ Strathmann zeigte ihm die in der Akte befindliche Quittung worauf Clyde „Scheiße!“ brummte. „Dann müssen wir das wohl zugeben?“
„Und den Einbruch haben Sie auch nicht begangen? Es war also so, dass sie sich wegen eines Platzregens in den Hauseingang geflüchtet haben, wo rein zufällig gerade der Einbrecher die Türe aufgehebelt hatte, als die Polizei zugriff und sie mit verhaftete?“ Clyde nickte entrüstet über den neuerlichen Justizirrtum.
„Merkwürdig daran ist nur, dass es sich bei dem Einbrecher um ihren alten Spannmann Ede handelt, der auch in den anderen 6 Einbruchsakten neben ihrem Namen auftaucht und der zufälligerweise der Bruder von Bonnie ist.“
„Was kann ich denn für ihren bescheuerten Bruder!“, erwiderte Clyde ungerührt. „Es gibt eben komische Zufälle. Das müssen die mir erst einmal beweisen!“
„Ja Clyde, da haben Sie Recht. Es geht doch nichts über eine intelligente Verteidigungsstrategie! Und Bonnie, wie war das mit dem Diebstahl des Parfüms? Ein Türke hat es Ihnen kurz vor der Kasse unbemerkt in Ihre Hosentasche gesteckt?“ Bonnie nickte unsicher. „Das Gegenteil werden die doch auch nicht beweisen können?“.
Schon einigermaßen erschöpft begleitete Strathmann die beiden zur Türe und verabschiedete sich mit den Worten: „Darüber werde ich mir Gedanken machen, wenn sie den versprochenen Vorschuss nächste Woche bezahlt haben.“
Die nächsten drei Mandanten hatten Standardfälle zu besprechen, die Strathmann routinemäßig abwickelte. Der darauf folgende Kunde bat um eine Reduzierung der monatlichen Gebührenraten von 50 € auf 25 €, und Strathmann rechnete schnell hoch, dass er dann im Jahre 2016 endlich seine Gebühren, wenn auch ohne Zinsen, im Geldspeicher haben würde. Aber selbst dieser Mandant, der sich entgegen der mittlerweile üblichen Gepflogenheiten immerhin bei ihm gemeldet hatte, war die reinste Erholung im Vergleich zu dem, was dann als letzter Tagestermin um 18 Uhr mit halluzinogener Wirkung über ihn hereinbrechen sollte.
Er überlegte gerade, ob die verstärkt auftauchenden Assoziationen mit Trickfilmfiguren vielleicht ein ernstzunehmendes Anzeichen für einen dringend notwendigen Kurzurlaub darstellten als die Tür aufging und eine junge Frau mit einem Stapel loser Papiere und geöffneter Briefumschläge unter dem Arm eintrat. Sie begrüßte ihn freundlich mit einer hohen Entenstimme. „Nein, nicht schon wieder!“ dachte Strathmann, ließ sich seine Beunruhigung aber nicht anmerken. Die Frau nahm ihm gegenüber am Schreibtisch Platz.
„Hallo, Herr Strathmann. Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?“, schnatterte sie munter drauf los. „Ich bin´s, Frau El Poothente. Sie haben damals meine Schwester Entana verteidigt. Sie wissen schon: Die, die ihre beiden Kinder getötet hat.“
Strathmann erinnerte sich. „Ja natürlich, wie könnte ich das vergessen! Wie geht´s Entana?“
Die junge Frau lächelte ihn schief an. „Sehr gut! Sie ist gerade für´s Wochenende zu Hause. Ich soll Sie ganz lieb grüßen!“
Strathmann schmunzelte und dachte an den Mordprozess zurück. Sehr zum Ärgernis der Schwurgerichtskammer war er im letzten Moment mit einem gestellten Privatgutachter aufgetaucht, der das Erstgutachten zerfetzt und Entana vor einer lebenslangen Freiheitsstrafe bewahrt hatte.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er zugeneigt. Während die Frau ihre Papiersammlung auf dem Tisch sortierte, sagte sie: „Es ist kompliziert. Ich glaube, ich muss etwas weiter ausholen.“
Und das tat sie, bis es Strathmann zunehmend schwindelig wurde und ihre Verena-Pooth-Stimme in seinen Ohren das Schlumpflied formte. Ausschweifend begann sie zu erzählen:
„Meine andere Schwester Souente brauchte ein neues Auto, weil das alte bei Kurvenfahrten so knarzend Geräusche machte. Sie kennen ja Souente. Sie haben sie auch mal wegen dieses blöden Tresoraufbruchs verteidigt. Natürlich konnte sie sich kein Neues leisten können, sondern allenfalls ein Gebrauchtes, da sie ja bekanntlich von Harz IV lebt. Also verkaufte ihr mein Bruder, der Autohändler – sie wissen schon, den haben Sie ja auch mal wegen Körperverletzung verteidigt – einen alten Ford Focus zum Freundschaftspreis von 2.000 €, den sie in Raten abbezahlen sollte. Ihren alten Wagen schenkte sie mir. Ich war darüber froh, schließlich habe ich ja auch kein Geld. Mit dem Ford hatte mein Bruder Souente allerdings über´s Ohr gehauen. Der Wagen war ebenfalls Schrott. Das wusste ich allerdings nicht. Souente bot mir den Focus zum Tausch mit ihrem alten Wagen an, und ich sollte nur noch 1.800 € draufzahlen. Im guten Glauben bin ich auf den Deal eingegangen und habe ihr das Geld, aber leider ohne Quittung, gegeben. Schließlich sind wir ja Schwestern – auch wenn wir uns auf den Tod nicht ausstehen können. Nach drei Wochen stand sie bei mir vor der Türe und wollte den Focus zurückhaben. Ich sagte „nein“, da ich den Wagen ja bezahlt hatte. Fragen Sie mich nicht woher ich das Geld damals hatte. Souente wurde wütend und schlug mir einen Zahn aus.“
Dabei lehnte sich Verona Poothente über den Tisch und sperrte ihr Maul, in dem mindestens ein halbes Dutzend Zähne fehlten, weit auf. „Sehen Sie, hier!“
Strathmann war Strafverteidiger, aber jetzt machte er unbewusst die Miene eines gewissenhaften Zahnarztes und begutachtete zunächst die belegte Zunge und dann das schadhafte Gebiss seines Gegenüber. Für einen Moment überkam ihn die Versuchung, seinen Füllfederhalter als Spatel einzusetzen, um einen noch tieferen Einblick in die dunkle Mundhöhle zu nehmen. Aber schon lehnte sich die Mandantin wieder zurück und überschüttete ihn mit weiteren juristischen Details.
„Natürlich habe ich sie daraufhin angezeigt. Wiederum drei Wochen später wollte ich vor dem Haus unserer Eltern mit dem Focus einparken. Da versperrten plötzlich zwei Autos, eines vor mir und eines hinter mir, die Straße. Ich flüchtete zu meinen Eltern in die Wohnung, und als ich zurückkam war der Focus weg. Ich rief meinen Bruder, der Souente den Wagen verkauft hatte, zu Hilfe. Zehn Minuten später war er bei meinen Eltern und berichtete, dass er Souente wegen Diebstahls seines Focus angezeigt habe. Sie hatte die Raten nicht bezahlt. Ich machte meinem Bruder Vorhaltungen und der rastete darauf hin aus und verpasste mir vor unseren Eltern ein blaues Auge.“
Verona legte Strathmann ein Farbfoto aus ihren mitgebrachten Unterlagen vor, auf dem sie mit einem veritablen Veilchen und frischer Zahnlücke breit lächelnd in die Kamera blickte. Aus irgendeinem Grund gefiel Strathmann das Foto.
„Meinen Bruder musste ich danach natürlich auch anzeigen! Dann kam die Polizei und beschlagnahmte das Auto, weil Souente mich wegen Unterschlagung des Focus angezeigt hatte.“
Strathmann runzelte irritiert die Stirn. In seinem Gehörgang hatte sich ein verdächtiger Sinuston eingeschlichen. Er erkannte strafrechtliche Aspekte aber witterte zugleich deutlich fehlende Zahlungsbereitschaft – oder warum war in der Erzählung sooft das Wort „Harz IV“ aufgetaucht und hatten Souente und der Bruder nicht noch offene Rechnungen bei ihm?
Strathmann hatte den ganzen Tag noch keinen Bissen zu sich genommen und nun verschwammen die Bilder vor seinen Augen. Er kniff sie zusammen und sah, dass seine Mandantin eindeutig zu der Verona Pooth mutiert war, die ihm schon im Fernsehen immer auf die Nerven gegangen war. Die Bilder einer Spinatwerbung zogen an seiner Netzhaut vorbei. Er blickte auf das T-Shirt der Mandantin und erkannte mit einiger Anstrengung den Schriftzug „Kik“ auf ihrer Brust. Jetzt war er sich sicher, dass er bald durchdrehen würde.
Hinter einem Wattevorhang hörte er wieder ihre Stimme, während in seiner Fantasie das immer beängstigendere Videoclip nun ruckelfrei zu laufen begann: „Dr. Strathmann? Hören Sie mir überhaupt noch zu?“, fragte die schrille Stimme. „Das Wichtigste habe ich Ihnen noch gar nicht erzählt. Zuvor hat Souente nämlich die Papiere des Focus aus meiner Wohnung gestohlen und sie der Polizei als Eigentumsnachweis gebracht. Ich bin aber auch nicht auf den Kopf gefallen und habe mir einen neunen Fahrzeugbrief beim Straßenverkehrsamt besorgt. Letzte Woche habe ich erfahren, dass der Focus von der Polizei an Souente freigegeben wurde. Wie kann das sein, wo ich doch nachweislich auch die Steuern und die Versicherung für das Fahrzeug bezahlt habe? Der Wagen war übrigens von Anfang an auf mich angemeldet, weil ich Souente einen Gefallen tun wollte. Also, was können wir jetzt tun?“
Strathmann biss die Zähne zusammen bis es knirschte. Er hatte nicht mehr die Kraft zum Abschluss einer Honorarvereinbarung. Die Figuren aus dem Clip tanzten vor seinen Augen und sangen mit diesen schrillen Stimmen. Zitternd und so gerade noch beherrscht schrieb er die vorgelegten Aktenzeichen ab, notierte die Telefonnummer der Mandantin und warf den teuren Füller auf den Tisch. Die Assoziation einer im Projektor leer laufenden Filmrolle zeigte das Ende des Videoclips an. Er blickte die Frau mit einem unheimlichen Blick an, und endlich verstummte sie. „Ich kümmere mich um alles, aber jetzt muss ich weg.“ Dann umrundete er den Schreibtisch, ergriff die Pooth beim Arm und zog sie aus dem Stuhl. „Wir sehen uns sobald ich die Ermittlungsakten eingesehen habe.“
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Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
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