„Herr Pohlen, es ist wieder passiert“, hatte mir Rosa M. (Name natürlich geändert) am Telefon gesagt, bevor die rüstige Mitsiebzigerin dieser Tage in der Kanzlei erschien, um sich über die Situation beraten zu lassen. Ich hatte der Frau gesagt, dass sie nicht vorbeikommen müsse, aber das hat sie nicht abgehalten. Seit mehr als 2 Jahrzehnten kenne ich die Rentnerin, die in Stresssituationen dazu neigt, klauen zu gehen, und habe sie schon reichlich oft verteidigt. Schon vor Jahren haben zwei Gutachter unabhängig voneinander eine Kleptomanie, also einen pathologischen Hang zum Stehlen, diagnostiziert, der ihre Steuerungsfähigkeit in Belastungssituationen aufhebe. „Schuldunfähig“ im Sinne des § 20 StGB sei die Frau, hatte ein niederrheinisches Amtsgericht damals festgestellt und die Frau freigesprochen, und weil sie zumeist unsinnige Sachen von geringem Wert klaut, fehlte die Erheblichkeit, die erforderlich wäre, um eine Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt anzuordnen.
Rosa M. geht regelmäßig in die Kirche, um dafür zu beten, dass sie nicht mehr klauen muss, und dann zündet sie auch Kerzen an, wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie diese auch bezahlt. Vielleicht ist das ja der Grund, dass die Gebete bislang keinen dauerhaften Erfolg hatten, ich habe das schon wiederholt zu bedenken gegeben. Wenn sie erwischt wird, bekommt Rosa Schnappatmung und kollabiert bisweilen, was dazu führt, dass besorgte Angestellte der beklauten Geschäfte den Rettungsdienst anrufen, der sie dann ins Krankenhaus bringt. Rosa braucht diesen Kick, denke ich, vielleicht kommt es ihr ja genau auf diesen Ausnahmezustand an. Deshalb achtet sie auch nicht sonderlich darauf, ob sie beim Klauen beobachtet wird, im Gegenteil, ich habe den Eindruck, sie will geradezu erwischt werden. Merkwürdige Dinge gibt´s…
Es ist schon etwas länger her, da hatte ich einen aufgebrachten Amtsanwalt am Telefon, der mir androhte, er werde meine Mandantin erneut begutachten lassen, die sei nämlich alles andere als schuldunfähig. Die trage das freisprechende Urteil sogar in Kopie bei sich und zeige dieses vor, wenn sie erwischt werde, um zu dokumentieren, dass sie schuldunfähig sei. Wer sich so verhalte, der gehe planmäßig vor und könne gar nicht schuldunfähig sei. Ich sehe das anders, schließlich kenne ich die Frau besser als der Amtsanwalt und weiß von ihren Nöten. Ich habe dem Strafverfolger damals gesagt, dass meine Mandantin nicht für eine erneute Begutachtung zur Verfügung stehe, es gebe ja schon zwei Expertisen, die aussagekräftig seien, und an der Situation habe sich bis dato nichts geändert. Der Amtsanwalt schäumte, aber dann hat er das Verfahren wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit eingestellt.
Rosa hat einen Anhörungsbogen der für den aktuellen Vorfall zuständigen Kreispolizeibehörde mitgebracht. Der zuständige Beamte scheint eine gewisse Ahnung von der Situation zu haben, denn er hat den bemerkenswerten Satz hinzugefügt: „Sollten sie unschuldfähig sein, legen Sie bitte den Gerichtsbeschluss vor“. „Unschuldfähig“ ist ein schönes Wort, finde ich, das trifft den Nagel auf den Kopf. Nicht jeder, der stiehlt, ist zur Unschuld fähig, dafür müssen schon besondere Voraussetzungen vorliegen. So wie bei Rosa, die mich ganz unschuldig anschaut und fragt, ob sie das Gerichtsurteil denn an die Kreispolizeibehörde schicken soll. „Machen Sie das ruhig“, antworte ich ihr, „und das nächste Mal, wenn Sie beim Klauen erwischt werden, müssen Sie nicht bei mir vorbeikommen, ich denke, die Verfahren werden auch ohne meine Mitwirkung eingestellt, so lange Sie nur Kleinigkeiten stehlen. Ansonsten reicht auch ein Anruf.“ Ich habe ihr das schon wiederholt gesagt, aber dennoch kommt sie immer wieder vorbei, um mit mir zu sprechen. Ich denke manchmal, das gibt ihr auch einen kleinen Kick, aber wer versteht schon das Innenleben einer Kleptomanin im fortgeschrittenen Lebensalter.
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