Sedat K. (Name geändert) ist eigentlich ein richtig netter Kerl. Er ist verheiratet, hat 2 kleine Kinder, arbeitet regelmäßig. Wenn er lacht, dann hat er Grübchen in den Wangen, seine dunklen Augen leuchten. Nur manchmal, da geht sein Temperament mit ihm durch, vor allem, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. So war das Anfang 2009, da hat er seinem früheren Arbeitgeber, einem Juwelier, in einer Tiefgarage aufgelauert und ihn mit einer Spielzeugpistole bedroht, um ihn zur Rückgabe von Familienschmuck im Wert von über 10.000 Euro zu bewegen, die der Mann für ihn in seinem Safe aufbewahrt hatte, dann aber nicht mehr zurückgeben wollte. Er solle ihm doch erst einmal beweisen, dass er den Schmuck noch nicht zuürckgegeben habe, hatte der Juwelier gesagt und die zivilrechtliche Beweislage war nicht besonders gut.
Um seiner Forderung zur Rückgabe des Goldschmucks Nachdruck zu verleihen, soll Sedat zweimal zugeschlagen haben, einmal mit der Pistole und einmal mit der Hand. Das hatte zu – wenn auch recht leichten – Verletzungen geführt. Sedat war wegen versuchter räuberischer Erpressung angeklagt worden, doch in der Hauptverhandlung war es mir gelungen, dem Juwelier sein böses Tun nachzuweisen, so dass es schließlich „nur“ zu einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchter Nötigung kam. 10 Monate mit Bewährung lautete der Urteilsspruch der Wuppertaler Strafkammer, damit konnte Sedat durchaus leben.
Im November 2011 ist Sedat nach Berlin gefahren, um an einer Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit und gegen den Terror der NSU und die mangelhafte Aufklärung der sogenannten „Döner-Morde“ teilzunehmen. Es hatte ihn empört, dass die Tatopfer zunächst jahrelang grundlos verdächtigt worden waren, der organisierten Kriminalität anzugehörigen, weil die Strafverfolgungsbehörden kein Tatmotiv erkannten und den rechtsradikalen Hintergrund der Morde ausgeblendet hatten. Die Demonstration war eskaliert, es kam nach Sedats Darstellung zu Gewalt auf beiden Seiten. Als er sah, wie Polizeibeamte demonstierende Frauen ziemlich grob attackierten und gegen sie unmittelbaren Zwang anwendeten, hob er einen Pflasterstein auf und warf ihn in Richtung der Polizeibeamten. Der Stein traf einen Polizisten an seinem Schutzhelm, verletzt wurde er nicht. Wegen des Steinwurfs wurde Sedat vor dem Amtsgericht Tiergarten wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung, schweren Landfriedensbruchs und Widerstands gegen Vollstrekcungsbeamte angeklagt. Ich habe ihn in diesem Verfahren verteidigt. Unter dem Titel „Ein Stein bringt ein Jahr Freiheitsstrafe, das ist bei uns die Faustregel“ …. habe ich im strafblog über den Prozess berichtet. Sedat hat sich für den Steinwurf bei dem Polizisten entschuldigt, hat versucht zu erklären, wie es zu dem Ausraster kam. Er hat vor Gericht einen guten Eindruck gemacht, der die Staatsanwältin dazu veranlasste, eine Bewährungsstrafe von 16 Monaten zu beantragen, obwohl er zur Tatzeit wegen der Wuppertaler Sache unter Bewährung stand. So lautete dann auch der Urteilsspruch.
Der zuständige Dezernent der Staatsanwaltschaft Berlin hatte zunächst Berufung eingelegt, weil Gewalttaten von einschlägig unter Bewährung stehenden Personen normalerweise nicht mehr mit Bewährungsstrafen geahndet werden. Ich selbst hatte ebenfalls Berufung eingelegt, um ein gewisses Gegengewicht gegen eine etwaige Berufung der Staatsanwaltschaft zu schaffen. Nachdem der Staatsanwalt mit seiner Kollegin, welche die Sitzungsvertretung wahrgenommen hatte, gesprochen und sich deren persönlichen Eindruck von dem Angeklagten hatte vermitteln lassen, erklärte er sich im Einvernehmen mit seinem zuständigen Abteilungsleiter zu einer wechselseitigen Berufungsrücknahme bereit. So kam es dann auch.
Jetzt hat das Landgericht Wuppertal in einer überraschenden Entscheidung die 10monatige Bewährungsstrafe aus dem Jahr 2009 im Hinblick auf die vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten verhängte Bewährungsstrafe sowie auf eine kleine Geldstrafe wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis widerrufen. Die Kammer könne die positive Prognose des Amtsgerichts Tiergarten nicht teilen, heißt es in dem Beschluss. Die Kammer könne die Feststellung des Amtsgerichts nicht nachvollziehen, wonach der Verurteilte „gerade in den letzten 3 Jahren einen starken Reifeprozess durchgemacht“ habe. Vielmehr widerlege die Verurteilung durch das Amtsgericht diesen Reifeprozess.
Die Staatanwaltschaft Wuppertal hatte sich ebenso wie der Bewährungshelfer für eine bloße Verlängerung der Bewährungsfrist ausgesprochen. Keiner der Wuppertaler Richter, der an der Beschlussfassung über den Bewährungswiderruf beteiligt war, hat Sedat K. jemals gesehen und sich einen persönlichen Eindruck von ihm gemacht. An der seinerzeitigen Verhandlung hatten drei andere Richter teilgenommen. Auf eine persönliche Anhörung Sedats im Widerrufsverfahren hat die Kammer gleichwohl verzichtet. Da reicht die bloße Papierform aus, um klüger zu sein als das zuletzt mit dem Verurteilten befasste Tatgericht, die Staatsanwaltschaft und der Bewährungshelfer. Vom Verteidiger gar nicht zu reden, aber der wusste gar nichts von dem laufenden Widerrufsverfahren. Sedat K., dem man die Gelegenheit gegeben hatte, sich schriftlich zu äußern, hatte mich nicht unterrichtet, weil er glaubte, ich würde automatisch vom Gericht informiert. Das war nicht besonders klug von ihm, er hätte ja zumindest mal anrufen können. Dann hätte ich versuchen können, in seinem Sinne Einfluss auf die Entscheidung des Gerichts zu nehmen.
Ich habe sofortige Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss eingelegt. Die muss ich jetzt begründen. Ich werde darlegen, dass beide Taten Ausnahmecharakter hatten. Ich werde anregen, noch einmal eine ausführliche Stellungnahme des Bewährungshelfers einzuholen, der zuvor nur standardmäßig ausgeführt hatte, im Hinblick auf die vom Amtsgericht Tiergarten ausgesprochene Bewährungsstrafe halte er eine Verlängerung der Bewährungsfrist für ausreichend. Ich werde darlegen, dass Sedat bereit ist, an einem Anti-Agressionstraining teilzunehmen, was ja zu einer weiteren Bewährungsauflage gemacht werden kann. Jetzt muss das OLG Düsseldorf entscheiden. Das hat schon wiederholt jediziert, dass Bewährungswiderrufe aufgrund vorangegangener Bewährungsstrafen nur ganz ausnahmsweise möglich sind. Ich hoffe für Sedat, dass es letztlich noch zu einer für ihn günstigen Entscheidung kommt. Das wäre auch seiner jungen Familie zu wünschen. Sedat hat mir zugesichert, sich zukünftig von allen Situationen, die eskalieren könnten, fernzuhalten. Ich glaube, das meint er durchaus Ernst.
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