Der Fahrplan war klar. Gestern sollten noch die beiden letzten Verteidigerplädoyers im Hamburger Piratenprozess gehalten werden, dann sollten die Angeklagten die Gelegenheit zum letzten Wort erhalten, und für den morgigen Freitag war die Urteilsverkündung vorgesehen.
Aber dann kam doch manches wieder anders als erwartet. Zunächst bat Rechtsanwalt Wallasch, der am letzten Verhandlungstag plädiert hatte, um das Wort für ergänzende Ausführungen und stellte dann einen schriftlich vorbereiteten umfangreichen Hilfsbeweisantrag, der darauf gerichtet ist, durch Vernehmung verschiedener (ehemaliger) Minister der Bundesregierung und eines Staatsekretärs der Bundesjustizministeriums nachzuweisen, dass nach der Festnahme der Angeklagten durch die niederländischen Streitkräfte die politische Entscheidung getroffen wurde, die Strafverfolgung in der Bundesrepublik Deutschland unter Umgehung des verfassungsrechtlichen Gebots der unverzüglichen Vorführung vor den gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 104 Abs.3 Grundgesetz zu ermöglichen, indem der Weg über ein Auslieferungsersuchen an die Niederlande eingeschlagen wurde.
Vereinfacht ausgedrückt trug Rechtsanwalt Wallasch vor, dass abgesprochen worden sei, die Festnahme und die Verbringung der Piraten nach Europa so zu gestalten, dass zunächst niederländisches Prozess- und Verfassungsrecht und kein deutsches Recht zur Anwendung kommen sollte. Nach einer Auslieferung nach Deutschland könne dann argumentiert werden, dass die deutsche Justiz jedenfalls keine Rechtsverletzung begangen hätte, indem die Gefangenen nicht unverzüglich einem Richter vorgeführt worden waren, weil das ja eine Angelegenheit der niederländischen Behörden gewesen sei. Nach der Auslieferung sei dann deutsches Recht und Europäisches Recht korrekt angewendet worden.
Tatsächlich aber, so Wallasch, hätten die niederländischen Behörden de facto als Hilfsbeamte der Hamburger Staatsanwaltschaft gehandelt, weil die Verbringung der mutmaßlichen Piraten nach Holland erst erfolgt sei, nachdem die deutschen Behörden sich nach einer entsprechenden politischen Entscheidung dazu bereit erklärt hätten, das Verfahren zu übernehmen und den Auslieferungsantrag zu stellen. Ohne diese verbindliche Abrede hätten die Niederländer die jetzigen Angeklagten nämlich in die Nähe der somalischen Küste verbracht und dort freigelassen, wie dies schon in zahlreichen anderen Fällen geschehen sei. Der Festnahmeakt bzw. das behördliche Verhalten danach sei daher nach deutschen Recht zu beurteilen.
Ich habe mich gleich zu Beginn meines Plädoyers diesem Hilfsbeweisantrag angeschlossen. Ansonsten haben der Kollege Blumenstein und ich insgesamt knapp 2 Stunden plädiert und letztlich die Einstellung des Verfahrens gegen unseren Mandanten beantragt, weil jedenfalls heute für die Verhängung von Jugendstrafe kein Raum mehr sei. Eine solche sei nämlich, falls man die Zulässigkeit des Verfahrens grundsätzlich bejahe, wegen der durchweg positiven Entwicklung des Mandanten während der Untersuchungshaft und nach seiner Freilassung im April 2012 keinesfalls erzieherisch veranlasst, was auch bei – diesseits bestrittener – Annahme der Schwere der Schuld Voraussetzung für die Verhängung sei.
Nach unserem Plädoyer gab das Gericht den Angeklagten die Gelegenheit zum letzten Wort, von dem diese in zum Teil sehr emotionalen Vorträgen auch Gebrauch machten. Etliche entschuldigten sich für ihre Tatbeteiligung und wiesen auf ihre schwierige psychische Situation in der Haft und ohne Kontakt zu ihren Familien hin, einer auch auf seinen tatsächlich besorgniserregenden Gesundheitszustand, andere beteuerten ihre Unschuld. Und dann kam das Wort an den Angeklagten Carab M. Dessen standardmäßige Verteidiger waren zu diesem Zeitpunkt terminlich verhindert, ein bislang im Verfahren nicht tätiger Kollege war für die Dauer ihrer Abwesenheit beigeordnet worden. Und Carab M. legte los, redete rund 45 Minuten lang und trug dabei Dinge vor, die bislang nicht Gegenstand seiner Einlassung und der Beweisaufnahme waren und die insbesondere für die Glaubwürdigkeit von Khalief D., der andere Angeklagte erheblich belastet hatte, von Bedeutung sein konnten. Er entschuldige sich für seine langen Ausführungen, meinte Carab M., eigentlich hätte er seinen Verteidigern versprochen, sich kurz zu halten, aber das habe nun einmal gesagt werden müssen.
Die Kammer beriet sich danach und teilte mit, dass sie keine Veranlassung sehe, erneut in die Beweisaufnahme einzutreten. Ob es insoweit noch Anträge gebe, fragte der Vorsitzende. Und dann kam nach längerem Hin und Her trotz aller argumentativer Bemühungen des Vorsitzende, dies zu verhindern, tatsächlich noch ein Antrag eines Mitverteidigers, der dazu führte, dass erneut in die Beweisaufnahme eingetreten werden musste. Die Kammer gebe den Angeklagten, die von dem Antrag betroffen seien, die Gelegenheit, sich mit ihren Verteidigern zu besprechen und zu entscheiden, ob noch Stellungnahmen erfolgen sollen, meinte der Vorsitzende, bevor die Verhandlung auf den morgigen Freitag vertagt wurde. Sollte die Beweisaufnahme morgen erneut geschlossen werden können, hätten Staatsanwaltschaft und alle Verteidiger erneut Gelegenheit zu plädieren. Dann wäre den Angeklagten erneut das letzte Wort zu gewähren, und nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens kann niemand sagen, welche Überraschungen da noch schlummern. Ob morgen tatsächlich ein Urteil verkündet werden kann, ist wieder völlig offen. Wenn nicht, dann müsste bis zum 01. November vertagt werden. Ein vorheriger Termin ist nicht möglich. Und weil zwischen dem letzten Wort und der Urteilsverkündung nicht mehr als 10 Tage liegen dürfen, müsste den Angeklagten dann erneut Gelegenheit zum letzten Wort gegeben werden.
Dieses Verfahren ist (wie jedes andere) wirklich erst vorbei, wenn das Urteil verkündet ist. Und dann wartet schon die Revision…
Kategorie: Strafblog
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