Dem Staatsanwalt gefällt die Haftentlassung nicht – Absurdes Argument: Sitzenbleiben bei Eintritt des Gerichts indiziert Fluchtgefahr



Veröffentlicht am 8. Januar 2014 von

ADVOKA~1Der Vorsitzende der Berufungskammer sieht das ganz locker: „Bleiben Sie sitzen!“ sagt er fast jedesmal, wenn er den Gerichtssaal betritt, bevor für die Verfahrensbeteiligten überhaupt die Gelegenheit bestanden hat, sich zu erheben. Er lege keinen Wert auf regelmäßige Gymnastikübungen im Gerichtssaal, hat er mal sinngemäß bekundet, es reiche ihm aus, wenn sich die Anwesenden bei der Urteilsverkündung erheben. Die erstinstanzliche Amtsrichterin hat das dem Vernehmen nach anders gehandhabt und dem Angeklagten, der sich wegen behaupteter Wadenkrämpfe nicht erheben wollte, Ordnungsmittel angedroht. „Jeder Doll ist anders“, sagt man bei uns am Niederrhein, und das gilt zweifelsfrei auch bei der Anwendung von Etikette im Strafprozess. Im Süden der Republik streitet man sich bisweilen heute noch – wenn auch selten – darüber, ob ein Verteidiger in der Hauptverhandlung einen weißen Langbinder oder überhaupt eine Krawatte tragen muss, während man das weiter nordwärts doch eher gelassen sieht.

In dem von mir schon häufiger berichteten Stalkingverfahren zum Nachteil einer Kriminalhauptkommissarin hat die zuständige  Berufungskammer des Mönchengladbacher Landgerichts den Untersuchungshaftbefehl am vergangenen Freitag nach langen 20 Monaten Untersuchungshaft endlich aufgehoben, und zwar gegen das ausdrückliche Votum der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage. In ihrer Entscheidung hat die Kammer zutreffend darauf hingewiesen, dass ohnehin nur noch zwei der erstinstanzlich abgeurteilten Taten Gegenstand des Haftbefehls seien. Für diese Taten seien damals Einzelstrafen von 20 Monaten und von 9 Monaten verhängt worden, wobei im Falle einer Bestätigung der Strafen ja ein Strafzusammenzug erfolgen müsse. Durch die Untersuchungshaft seien jedenfalls rund 2/3 der insoweit bestehenden Straferwartung verbüßt, so dass eine Haftfortdauer unverhältnismäßig wäre. Außerdem bestehe in Ansehung der langen bisherigen Untersuchungshaft keine Fluchtgefahr mehr.

Die Staatsanwaltschaft hat Beschwerde gegen die Aufhebung des Haftbefehls eingelegt. Es bestehe immer noch Fluchtgefahr, immerhin seien ja im Falle einer Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils noch 7 Monate bis zum 2/3-Zeitpunkt zu verbüßen. Dabei hat die Staatsanwaltschaft auch die Taten mit einbezogen, die gar nicht Gegenstand des Haftbefehls sind. Zur Frage, inwieweit bezüglich dieser Taten denn überhaupt noch dringender Tatverdacht besteht, nachdem die Hauptbelastungszeugin jedenfalls aus Sicht der Verteidigung zahlreiche Unwahrheiten bekundet hat, hat sich der Staatsanwalt nicht geäußert. Dafür trägt er Erstaunliches zu Frage der Fluchtgefahr bei. Diese ergebe sich nämlich unter anderem daraus, dass der Angeklagte  „während der Verhandlung mehrfach durch sein Verhalten und durch Äußerungen kundgetan (habe), dass er wenig Achtung vor der Justiz habe“. Konkret wird hierzu ausgeführt, der Angeklagte habe in erster Instanz mit Ordnungsmitteln dazu angehalten werden müssen, sich beim Betreten des Saals durch das Gericht zu erheben. Außerdem habe er – man höre und staune – “ Zweifeln an der Unvoreingenommenheit der Justiz im vorliegenden Verfahren Ausdruck verliehen“. Und schließlich laufe gegen ihn auch noch ein Verfahren wegen Beleidigung des Nebenklagevertreters.

Im heutigen Hauptverhandlungstermin bin ich der Beschwerde entgegengetreten. Ich habe darauf hingewiesen, dass mein Mandant nach seiner Haftentlassung heute schon zum zweiten Mal ohne Zwangsmittel bei Gericht erschienen ist, obwohl er wisse, dass die Staatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt hat. Das spreche doch deutlich gegen Fluchtgefahr. Ich habe Zweifel bekundet, ob das nach Angaben des Mandanten auf Wadenkrämpfe zurückzuführende Sitzenbleiben beim Eintritt des Gerichts vor mehr als einem Jahr denn tatsächlich Fluchtgefahr indizieren kann. Sitzenbleiben ist ja nicht gerade ein Sinnbild für gesteigerte Mobilität eines Fluchtwilligen. Ich habe darauf hingewiesen, dass auch die Verteidigung in erster Instanz Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Gerichts hatte und dass deshalb im Einvernehmen mit dem Angeklagten mehrere Befangenheitsanträge gestellt worden waren. Dass die Wahrnehmung prozessualer Rechte als Begründung für die Annahme von Fluchtgefahr herangezogen werde, sei doch erschreckend. Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Justiz müssen  doch im Einzelfall erlaubt sein, oder etwa nicht?

Der Staatsanwalt ist dem Argument der Verteidigung, das Verfahren sei nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden, weil nicht einmal eine Verhandlungsdichte von 1 Verhandlungstag pro Woche erreicht worden sei, mit rechnerischen Argumenten entgegengetreten. Es sei nämlich „im Durchschnitt sogar mehr als einmal pro  Woche verhandelt worden“, im Dezember sogar insgesamt fünfmal. Donnerwetter, sage ich da  und habe auch den Rechenschieber benutzt. 24 Verhandlungstage in 30 Wochen, also ich komme da auf 0,8 Tage pro Woche. Aber vielleicht zählt ja aus Sicht der Staatsanwaltschaft nur der Dezember, wer weiß das schon? Ach, Mist, jetzt zweifele ich ja auch schon wieder an der Unvoreingenommenheit der Justizbehörden. Aber weglaufen werde ich deshalb jedenfalls nicht.

Die Kammer hat beraten und der Beschwerde der Staatsanwaltschaft nicht abgeholfen. Die geht jetzt zum Oberlandesgericht. Mein Mandant ist derweil auf freiem Fuß und wird sich dem Verfahren sicher auch weiterhin stellen. Dafür muss er nicht wieder in Haft genommen werden. Jede andere Entscheidung des OLG wäre aus meiner Sicht absurd, auch wenn es um eine Kriminalhauptkommissarin als angebliches Opfer geht.

 


Kategorie: Strafblog
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