Der heikle Balanceakt zwischen Opportunität und Rechtsstaatlichkeit – Nicht immer einfach für die Verfahrensbeteiligten



Veröffentlicht am 14. Januar 2015 von

 

Rainer Pohlen

Rainer Pohlen

Es gibt Verfahren, da wird einem Angeklagten und auch seiner Verteidigung im Namen des Rechts so Einiges zugemutet, was nach meiner Auffassung die Grenzen des rechtlich Zulässigen nicht nur tangiert, sondern sie deutlich überschreitet. Über den Fall Bernie Ecclestone, dem bei einer durchaus zweifelhaften Beweislage zugemutet wurde, sich gegen Zahlung von 100 Millionen Dollar (nein, das ist kein Schreibfehler!) aus der Verurteilungsgefahr wegen des Vorwurfs der Anstiftung zur Untreue und Bestechung mit einem Volumen von rund 44 Millionen Euro herauszukaufen, habe ich bereits berichtet. Die auf dieser Grundlage erfolgte Verfahrenseinstellung gem. § 153a StPO war nach meiner Rechtsauffassung durch das für Fälle der leichteren und mittleren Kriminalität geltende Opportunitätsprinzip nie und nimmer gedeckt.

Vor Tagen hatte ich es an einem rheinischen Amtsgericht mit einem wesentlich weniger bedeutenden Fall zu tun, der aber nach meiner Auffassung ebenfalls jenseits der Grenzen des Strafprozessrechts seine Erledigung fand. In der Sache ging es um den wenig appetitlichen Vorwurf des Besitzes kinderpornografischer und jugendpornografischer Schriften,  wobei damit konkret 7 Fotos gemeint waren, welche von den Strafverfolgungsbehörden auf dem Rechner bzw. einer externen Festplatte meines Mandanten festgestellt und als strafrechtlich relevant eingestuft worden waren. Soweit mir dies bekannt ist, gilt die Strafprozessordnung auch in diesem delikaten Deliktsbereich, worauf ich noch zurückkommen werde.

Ich hatte im Vorfeld der Hauptverhandlung beantragt, das Verfahren einzustellen, weil die Anklageschrift ihrer gesetzlich normierten Umgrenzungsfunktion nicht gerecht werde und nicht erkennen lasse, welche konkrete Tat dem Angeklagten denn überhaupt vorgeworfen werde. Tatsache ist, dass in der Anklage pauschal von 5 kinder- und 2 jugendpornografischen Bildern die Rede ist, welche sich unter insgesamt mehr als 400 Fotos mit sexuellen Darstellungen befunden hätten. Welche konkreten Bilder gemeint sind, ergibt sich aus der Anklageschrift nicht. Weder werden die Dateien irgendwie nach ihrem Pfad oder einer sonstigen individuellen Bezeichnung auf den Festplatten benannt noch werden sie anderweitig in einer individualisierbaren Weise beschrieben. In der Anklage heißt es pauschal, die inkriminierten Darstellungen umfassten “im Einzelnen sexuelle Handlungen von Kindern und Jugendlichen in Form von Masturbation und des Geschlechtsverkehrs untereinander”. Allerdings habe ich in dem gesamten Beweismittelband mit den extrahierten Fotos nicht ein einziges gefunden, auf welchem auch nur ansatzweise so etwas wie Geschlechtsverkehr zu sehen ist. Und allenfalls bei einem oder zwei Fotos könnte es sich um Masturbation handeln.

Das rechtliche Problem besteht unter anderem darin, dass im Falle einer Verurteilung auf einer solchen Grundlage nicht zu erkennen ist, welche Tat bzw. welches Foto denn nun abgeurteilt ist und welcher historische Vorgang des Herunterladens strafklageverbraucht ist.

Ich hatte auch noch andere Bedenken geltend gemacht, weil die Durchsuchung der Wohnung des Mandanten und die Sicherstellung seiner EDV erst knapp sechs Monate nach Erlass des Durchsuchungsbeschlusses erfolgt ist und insoweit zweifelhaft sein kann, ob sie überhaupt noch rechtmäßig war. Das Bundesverfassungsgericht hat in BVerfGE 96, 44 (54) eine Frist von längstens 6 Monaten unter bestimmten Voraussetzungen als “noch hinnehmbar” bezeichnet, wobei dies ersichtlich keine nach unten starre Grenze, sondern die äußerste Grenze der Rechtsstaatlichkeit in Ausnahmefällen bedeutet. So jedenfalls verstehe ich die Entscheidung.

Das Amtsgericht hatte meinen Antrag nicht beschieden und den bereits anberaumten Hauptverhandlungstermin bestehen gelassen. Also bin ich mit dem Mandanten zum Termin angereist. Die noch sehr junge Amtsrichterin meinte, nachdem ich meine Bedenken in der Hauptverhandlung noch einmal vorgetragen habe, sie sei schon der Auffassung, dass die Anklage den Tatvorwurf noch genügend umreiße. Meine Frage, ob sie mir sagen könne, welche Fotos denn konkret gemeint seien, beantwortete sie eher ausweichend damit, das müsse dann noch festgestellt werden. Genau dies müsste sich aber aus der Anklage selbst ergeben, damit sie ihrer Umgrenzungsfunktion gerecht werde, habe ich insistiert.

Ich habe angeregt, das Verfahren im Hinblick auf die bestehenden rechtlichen Zweifel sowie auch deshalb, weil es sich letztlich schon von der Anzahl der fraglichen Fotos her um eine Tat am untersten Rande des Strafrahmens handele, nach § 153 StPO, meinethalben – das war mit dem Mandanten abgesprochen – auch nach § 153a StPO gegen eine überschaubare Geldauflage, einzustellen. Das wiederum wollte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, ein durchaus erfahrener Amtsanwalt, nicht mitmachen. Er stimme mir zwar in meiner Einschätzung, dass sich der Tatvorwurf an der unteren Grenze bewege, zu. Im Hinblick auf eine schon fast 20 Jahre alte, aber noch nicht tilgungsreife Vorstrafe – eine Bewährungsstrafe von mehr als einem Jahr wegen sexuellen Kindesmissbrauchs – bestehe er auf einer Verurteilung,  wobei er eine Geldstrafe im unteren Bereich beantragen werde. Falls insoweit keine Einigung bestehe, müsste vertagt werden. Er werde dann darauf bestehen, dass alle mehr als 400 sichergestellten Bilddateien in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen würden. Dann lasse sich gegebenenfalls herausfiltern, welche 7 Dateien die Anklage denn meine. Zur Ehrenrettung des Amtsanwalts sei erwähnt, dass er selbst nicht der Anklageverfasser war.

Ich habe erneut darauf hingewiesen, dass die fehlerhafte Anklage meines Erachtens nicht durch weitere Sachaufklärung in der Hauptverhandlung schlüssig gemacht werden könne. Dann sei es sauberer, das Verfahren wegen des erwähnten Mangels gemäß § 206a StPO einzustellen und zu prüfen, ob gegebenenfalls später eine neue – diesmal ihrer Umgrenzungsfunktion gerecht werdende – Anklage erhoben werden kann. “Vielleicht kommen ja insgesamt nur 7 Dateien in Betracht, weil die anderen ersichtlich ausscheiden”, meinte die Richterin und der Amtsanwalt stimmte ihr zu. “Welche sollen das denn sein, wenn schon die in der Anklage konkretisierten sexuellen Handlungen auf keinem Foto zu sehen sind?”, habe ich eingewandt, aber damit bin ich auf wenig Verständnis gestoßen. Immerhin gehe es ja um den Vorwurf der Kinderpornografie, das sei jedenfalls keine Bagatelle.  Ich habe mir kurz die Frage gestellt, ob die StPO in diesem Deliktsbereich vielleicht grundsätzlich suspendiert sein könnte.

“Herr Pohlen, ich würde eine Geldstrafe akzeptieren, wenn die Sache damit erledigt ist”, ließ sich mein Mandant plötzlich vernehmen. “Hauptsache, ich muss nicht mehr wiederkommen!” Die Aussicht auf weitere Verhandlungstage und eine mögliche erneute Anklageerhebung nach einer etwaigen Verfahrenseinstellung schreckte ihn ersichtlich ab.

Wir haben die Sachlage unter vier Augen erörtert. Natürlich muss ich den Willen des Mandanten berücksichtigen. Da spielen viele Aspekte, auch wirtschaftliche, eine Rolle. Ich habe die Richterin gefragt, welche der Bilddateien sie denn aburteilen werde, wenn man sich entsprechend verständigen könne. Das sei dann egal, wurde ich sinngemäß beschieden, damit seien ja jedenfalls die über 400 Dateien abgedeckt, weil sich darunter ja laut Anklage nur 7 strafbare Abbildungen befänden.

Der Angeklagte hat schließlich eingeräumt, 2 jugendpornografische und 5 kinderpornografische Dateien besessen zu haben. Wir haben uns kein einziges der inkriminierten Fotos in der Verhandlung angeschaut. Der Staatsanwalt hat, wie zuvor angekündigt, 50 Tagessätze Geldstrafe mit einem nach unten abgespeckten Tagessatz beantragt. Eine förmliche Verständigung haben wir nicht getroffen. Die Richterin hat – davon war ich aufgrund des im Ton freundlichen Gesprächsverlaufs auch ausgegangen – entsprechend geurteilt. Wir haben allseitig Rechtsmittelverzicht erklärt. Damit war das Verfahren beendet.

Pragmatisch betrachtet war das vielleicht eine vernünftige Lösung. Dogmatisch betrachtet darf ich gar nicht darüber nachdenken. Wofür, so frage ich mich manchmal, gibt es eigentlich eine Strafprozessordnung, wenn diese mit pragmatischen Erwägungen einfach außer Kraft gesetzt wird? Ich gehe davon aus, dass das Gericht und der Sitzungsstaatsanwalt das anders sehen. Wie im Fall Bernie Ecclestone. Sonst hätte so nicht entschieden werden dürfen.

 

 

 


Kategorie: Strafblog
Permalink: Der heikle Balanceakt zwischen Opportunität und Rechtsstaatlichkeit – Nicht immer einfach für die Verfahrensbeteiligten
Schlagworte: