Die Eltern eines dreijährigen Kindes verklagten den Inhaber eines Tattoo-Studios auf Schadensersatz und Schmerzensgeld, weil ihr Kind beim Stechen von Ohrlöchern wie am Spieß geschrien haben soll. Einige Tage später stellten die Eltern das Kind einem Arzt vor, der weitere traumatische Reaktionen beobachtet haben will. Angesichts der Beschneidungsdebatte scheint ein Berliner Amtsrichter, der sich zivilrechtlich mit dem Fall zu befassen hat, konsequent sein zu wollen. Er will prüfen lassen, ob Eltern und der Ohrstecher sich wegen Körperverletzung strafbar gemacht haben könnten. Stand das Kindeswohl der Einwilligung der Eltern entgegen? Hierüber berichtete die taz u.a. in ihrer online-Ausgabe vom 26.8.2012 und verwies darauf, dass es bislang in Deutschland kein Gesetz oder Verordnung dafür gäbe, ab welchem Alter Ohrlöcher gestochen werden dürfen. Parallelen zu der Beschneidungsdebatte liegen klar auf der Hand. Hierüber hatte ich in verschiedenen Blogbeiträgen meine Meinung kundgetan.
Umso erfreuter war ich, als ich in der Ausgabe vom 25.8.2012 im Feuilleton der Süddeutschen ein klares Statement von dem Mitglied des Deutschen Ethikrats, dem Hamburger Strafrechtsprofessor Reinhard Merkel, las.
Merkel beginnt seinen Artikel „Die Haut des Anderen“ mit einer Frage, die offensichtlich gerne amerikanischen Jurastudenten im ersten Semester gestellt wird: „Hat ein freier Mann in einem freien Land nicht das Recht, seinen Arm zu schwingen?“ Die Antwort hierauf lautet frei nach Kant: „In einem freien Land endet das Recht, deinen Arm zu schwingen, dort, wo die Nase des Anderen beginnt.“
Merkel konstatiert, dass dieses Lehrbeispiel fast allen Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die im Herbst 2012 einen Gesetzesentwurf zur Straffreiheit von Jungenbeschneidungen beschließen wollen, vorgehalten werden müsse.
Bei der Grundsatzfrage gehe es nicht, wie immer wieder behauptet wird, um einen klassischen Grundrechtskonflikt, also einer Abwägung zwischen dem Freiheitsrecht der Eltern auf ungestörte Ausübung ihrer Religion und dem Integritätsrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Die immer wieder gebetsmühlenartig vorgetragene Abwägungsnotwendigkeit sei geradezu abwegig, denn kein Freiheitsgrundrecht, welchen Gewichts auch immer, gestatte das direkte Eindringen in den Körper eines anderen. Jede aktive Entfaltung eigener Freiheit, sei es der Religion, der Kunst, des Gewissens oder der, den eigenen Arm zu schwingen, ende vor der Nase (oder Vorhaut) des Anderen.
Den gängigen Einwand, für die Beschneidung läge ja regelmäßig die Einwilligung der Eltern vor, die als Sorgerechtsinhaber dazu berechtigt seien, widerlegt Merkel überzeugend: Legitimationsgrundlage für Einwilligungen zu körperlichen Eingriffen fußten nicht auf der Religionsfreiheit sondern auf dem Erziehungsrecht. Das Sorgerecht aber sei anders als die Religionsfreiheit ein treuhänderisches Mandat, welches sich ausschließlich am Kindeswohl zu orientieren habe. Das Elternrecht ist ein Recht im Interesse des Kindes und findet an dessen Wohl seine zwingende Grenze.
Der Einwand, die rituelle Aufnahme in eine Religionsgemeinschaft diene dem Kindeswohl, denn nur hierdurch könnten Kinder in jüdische oder muslimische Gemeinschaften aufgenommen werden, lässt Merkel nicht gelten. Die Behauptung stimme schon tatsächlich nicht. Zehntausende männlicher Juden weltweit, darunter zwei Prozent der israelischen Männer, seinen unbeschnitten und ihre Zahl wachse ständig. Unbeschnittene Moslems gebe es im Millionenbereich. Auch bei Juden und Moslems wachse der Widerstand gegen das archaische Ritual. So seien in den letzten Jahren dutzende Vereinigungen mit dem Ziel der Abschaffung des Ritus auch in Israel gegründet worden.
Aber selbst wenn man der Meinung sei, erst die Beschneidung mache ein Kind zum vollwertigen Mitglied der Religionsgemeinschaft, laufe dies gegen das Wohl des Kindes. Die Versuche, den Eingriff zu verharmlosen, seien medizinisch nachgewiesen unrichtig. Die Risiken seien groß, der Eingriff ohne Anästhesie, wie er z.B. von dem früheren Präsidenten des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, gefordert wird und wie er zumeist auch in Deutschland praktiziert wird, sei eine traumatisierende Quälerei.
Letztlich gehe es der Politik auch nicht um eine grundrechtliche Abwägung. Es gehe um die besondere deutsche Verantwortung gegenüber jüdischen Belangen, die den schrecklichen Massenmorden an Juden in der Deutschen Geschichte geschuldet sei. Es gehe daher um die Einführung eines jüdisch-islamischen Sonderrechts, das einen – vielleicht politisch doch notwendigen – Sündenfall für den Rechtsstaat darstelle. Schade, dass Kinder nicht wählen können/dürfen und offensichtlich keine Lobby haben.
Kategorie: Strafblog
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