Einen Tag vor meinem Kurzurlaub, und das Büro wirkt wie ein Dampfdruckkessel kurz vor der Explosion. Der Deckel wölbt sich unter dem Druck und vibriert metallisch, wenn heißer Wasserdampf pfeifend durch die Ritzen entweicht. Ich hetzte von einem Gerichtstermin zum nächsten. Kaum betrete ich mein Zimmer, schrillen die Telefone wie Presslufthämmer. Ich habe das Gefühl, der Teppichboden unter meinen Füßen bebt, aber was ich fühle ist nur mein Pulsschlag. Ich will diesen Urlaub, und zugleich hasse ich ihn. Er bringt mich aus dem Tritt und an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Gerade habe ich den Stapel mit den wichtigsten Akten bearbeitet, und Hoffnung steigt in mir auf, da bringt die Sekretärin den nächsten Berg. Alles ist wichtig! Ich denke an den „Mythos des Sisyphos“, „der Fremde“ und „die Pest“ und frage mich, ob Albert Camus Rechtsanwalt war. Das Telefon schreit und die Sekretärin scheucht mich zum 11.15 h – Termin. Außer Atem trete ich vor den Gerichtssaal. Die Verhandlung verspätet sich um 15 Minuten. Ich nutze die Zeit und setze mich auf die Steinstufen vor dem Gericht . Die Sonne brennt mir ins Gesicht, und ich sauge jeden einzelnen Sonnenstrahl auf. Ich halte mein Handy einsatzbereit in der Hand und atme durch.
Als die Hauptverhandlung aufgerufen wird, betrete ich – ganz der coole Anwalt – den Gerichtssaal. Ich grüße freundlich und mache meine Scherze. Die Staatsanwältin ist mir neu. Sie blättert ernst und in sich versunken in den Akten. Ihr Plädoyer aber überrascht mich. Sie berichtet davon, wie sie den Angeklagten in der Haftvorführung vor einigen Monaten erlebt hatte. Sie sei über sein Aussehen erschrocken gewesen. Sie habe sich Sorgen um ihn gemacht, da er offenbar wegen seiner Drogensucht kurz vor dem Tod gewesen sei. Heute sähe er 15 Jahre jünger aus. Sie freue sich aufrichtig darüber, dass die Untersuchungshaft ihm gut getan habe. Er mache einen klaren Eindruck und habe Ziele. Sie wünsche sich, dass er die schwierige Therapie durchstehe und ein neues Leben, das den Namen verdiene, beginne könne. Deshalb beantrage sie auch nur eine geringe Freiheitsstrafe. Zu seinem Schutz wolle sie aber, dass er bis zum Antritt der Therapie in Haft bleibe. Sie traue dem jungen Mann mit seiner schwierigen Biographie noch nicht zu, aus der Freiheit heraus durchzuhalten. Ich höre ihre Worte und spüre, sie meint es ernst. Ehe ich aufstehe, um meinerseits etwas zu sagen, regt sich Widerstand gegen die Prämisse, Haft könne irgendjemandem gut tun. Dann schließe ich mich mit meinen eigenen Überlegungen ihrem Plädoyer an. Ich muss innerlich zugeben, sie hat in diesem Falle auf eine Art Recht. Und wieder denke ich an Sisyphos. Solange wir, die Gesellschaft, nichts anderes anzubieten haben als Haft, kann ich ihr nicht ernsthaft widersprechen, auch wenn ich Anderes wünschen würde.
Wir verlassen gemeinsam den Gerichtssaal, und auf dem Wege raus mache ich ihr ein Kompliment über ihr hübsches Sommerkleid. „Das ist ein Rock mit Bluse!“, korrigiert sie mich mit einem stillen Lächeln.
Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach
Kategorie: Strafblog
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