Die bewegenden Reden der Angehörigen der Opfer rechten Terrors



Veröffentlicht am 23. Februar 2012 von

Die Süddeutsche Zeitung hat heute ohne Kommentar die Rede dreier Angehöriger veröffentlicht, deren Väter bzw. Sohn von den Neo-Nazis der sog. Zwickauer Terrorzelle ermordet worden sein sollen. Auch für Verdächtige aus der Neo-Nazi-Szene gilt die Unschuldsvermutung. Und dennoch – die Reden anlässlich einer Gedenkveranstaltung für die NSU-Opfer im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt haben etwas selten Versöhnliches. Dem Vorbild der Süddeutschen folgend, sollen sie hier nicht weiter kommentiert werden.

Semiya Simsek:  „‚Hörst du das? Die Glöckchen. Das sind die Schäfchen, die jetzt aus den Bergen runter ins Tal kommen. Das tun sie immer in der Nacht.‘ Mein Papa erzählte gerne von sich und von seinen Träumen. Ich liebte es, ihm zuzuhören. Er saß in dieser warmen Sommernacht in unserem Garten in der Türkei und aß Kirschen. Ich setzte mich zu ihm und fragte ihn: ‚Kannst du nicht schlafen?‘ ‚Doch Semiya‘, sagte er, ‚ich möchte etwas hören.‘ Und so lauschten wir zusammen dem Klang der Glöckchen der Schafe. Ich spürte, wie glücklich mein Vater in diesem Moment war.

 Ein Jahr später war mein Vater tot. Am 9. September 2000 wurde auf meinen Vater Enver Simsek geschossen. Er starb zwei Tage später im Krankenhaus. Der erste Mord. Wir sollten keinen weiteren gemeinsamen Sommer mehr haben. Von einem Tag auf den anderen änderte sich für uns, für mich alles. Das alte Leben gab es nicht mehr. Mein Vater war tot. Er wurde nur 38 Jahre alt. Ich finde keine Worte dafür, wie unendlich traurig wir waren. Doch in Ruhe Abschied nehmen und trauern, das konnten wir nicht.

Die Familien, für die ich heute hier spreche, wissen, wovon ich rede. Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein. Immer lag da die Last über unserem Leben, dass vielleicht doch irgendwer aus meiner Familie, aus unserer Familie verantwortlich sein könnte für den Tod meines Vaters. Und auch den anderen Verdacht gab es noch. Mein Vater ein Krimineller, ein Drogenhändler.
Können Sie erahnen, wie es sich für meine Mutter angefühlt hat, plötzlich selbst ins Visier der Ermittlungen genommen zu werden? Und können Sie erahnen, wie es sich für mich als Kind angefühlt hat, sowohl meinen toten Vater als auch meine schon ohnehin betroffene Mutter unter Verdacht zu sehen?
Dass all diese Vorwürfe aus der Luft gegriffen waren und völlig haltlos waren, das wissen wir heute. Mein Vater wurde von Neonazis ermordet. Soll mich diese Erkenntnis nun beruhigen? Das Gegenteil ist der Fall. In diesem Land geboren, aufgewachsen und fest verwurzelt, habe ich mir über Integration noch nie Gedanken gemacht. Heute stehe ich hier, trauere nicht nur um meinen Vater und quäle mich auch mit der Frage, bin ich in Deutschland zu Hause? Ja klar, bin ich das.
Aber wie soll ich mir dessen noch gewiss sein, wenn es Menschen gibt, die mich hier nicht haben wollen und die zu Mördern werden, nur weil meine Eltern aus einem fremden Land stammen. Soll ich gehen? Nein, das kann keine Lösung sein. Oder soll ich mich damit trösten, dass wahrscheinlich nur Einzelne zu solchen Taten bereit sind? Auch das kann keine Lösung sein. In unserem Land, in meinem Land muss sich jeder frei entfalten können, unabhängig von Nationalität, Migrationshintergrund, Hautfarbe, Religion, Behinderung, Geschlecht oder sexueller Orientierung.
Lasst uns nicht die Augen verschließen und so tun, als hätten wir dieses Ziel schon erreicht. Meine Damen und Herren, die Politik, die Justiz, jeder Einzelne von uns ist gefordert. Ich habe meinen Vater verloren, wir haben unsere Familienangehörigen verloren. Lasst uns verhindern, dass das auch anderen Familien passiert. Wir alle gemeinsam zusammen, nur das kann die Lösung sein. . .“
Gamze Kubasik: „…Ja, nur das kann die Lösung sein. Der türkische Dichter Nazim Hikmet hat ein Gedicht geschrieben. Es drückte aus, wie wir alle empfinden und wie wir gemeinsam leben wollen. Nazim Hikmet benutzte das Bild des Waldes und der Bäume. So wollen wir auch leben auf der Suche nach Einheit in der Vielfalt.
Zum Anschluss dieser Gedenkfeier werden wir die Kerze der Hoffnung hinaustragen. Sie steht für die Hoffnung auf eine Zukunft, die von mehr Zusammenhalt geprägt ist. Das Gesicht heißt „Leben“: Leben wie ein Baum, einzeln und frei und brüderlich wie ein Wald. Das ist unsere Sehnsucht.“
Ismail Yozgat: „Meine Damen und Herren, Exzellenzen, ich möchte Sie alle herzlich begrüßen, vor allen Dingen unsere Bundeskanzlerin, Frau Angela Merkel. Ich bin Herr Ismail Yozgat. Mein Sohn starb in meinen Armen am 6. April 2006 in dem Internetcafé, wo er erschossen wurde.
Ich möchte mich von ganzem Herzen bedanken bei Herrn Altbundespräsidenten Christian Wulff. Wir sind seine Gäste, wir bewundern ihn. Und ich möchte mich bei allen bedanken, die diese Gedenkveranstaltung für uns gemeinsam ausrichten. Und ich möchte mich herzlich bedanken bei meiner Heimatstadt Kassel-Baunatal. Ich habe Anschreiben bekommen von der Ombudsfrau Frau Barbara John. Ich möchte mich herzlich bei ihr bedanken.
Unter anderem ist uns materielle Entschädigung angeboten worden. Ich möchte mich herzlich dafür bedanken, möchte aber sagen, dass wir das nicht annehmen möchten, meine Familie möchte seelischen Beistand, keine materielle Entschädigung.
Wir haben anstelle dessen drei Wünsche. Unser erster Wunsch ist, dass die Mörder gefasst werden, dass die Helfershelfer und die Hintermänner aufgedeckt werden. Das ist unser größter Wunsch, und unser Glaube und unser Vertrauen an die deutsche Justiz ist groß. Unser zweiter Wunsch ist, dass die Holländische Straße – unser Sohn Halid Yozgat ist in der Holländischen Straße 82 geboren worden und er ist dort in dem Ladengeschäft umgebracht worden – dass diese Straße nach ihm benannt wird: Halid-Straße.
Unser dritter Wunsch ist, dass im Namen der zehn Toten im Angedenken an sie ein Preis ausgelobt wird. Wir, unsere Familie, möchten gerne eine Stiftung gründen und sämtliche Einnahmen spenden für Menschen, die krebskrank sind.
Ich möchte mich herzlich bedanken für diese Gedenkveranstaltung und möchte Sie herzlich und mit höchster Anerkennung grüßen.“

 


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