Die Griechen und die Liebe – Mein alter Freund Jochen ist tot



Veröffentlicht am 2. September 2013 von

Am frühen Freitagmorgen ist mein alter Freund und Kollege Jochen gestorben. Die Nachricht ereilte mich am Rande eines Strafprozesses in Thüringen und hat mich das ganze Wochenende über immer wieder gedanklich beschäftigt. Ach ja, der Jochen. In diesem September wäre er 60 Jahre alt geworden, aber der Krebs hat mit enormer Vehemenz zugeschlagen und mir dadurch den für heute geplanten Abschiedsbesuch im Krankenhaus unmöglich gemacht.

Mit Jochen habe ich einen Teil meiner Jugend geteilt und ihn danach noch fast 3 Jahrzehnte hinweg begleitet, bevor ich mich dazu entschlossen habe, den Kontakt – von Zufallsbegegnungen abgesehen – abzubrechen. In meinen jungen Jahren hat mich seine Intellektualität gefangen genommen, wir haben nächtelang über politische, ethische und philosophische Fragen diskutiert. Ich war gerade 16 Jahre alt, als er von einem einjährigen Auslandsjahr in den USA zurückkam und meiner Obertertia zugewiesen wurde, und da saß er dann ein paar Plätze neben mir, großgewachsen, mit ernstem, bedeutungsvollen Gesicht, sonorer Stimme und eigentümlicher Mimik und Gestik, die mir unendlich erwachsen vorkam. Ein halbes Jahr später ließ er sich aus Protest gegenüber seinem Vater, einem grobklotzigen Lehrer, mit dem er sich nicht gut verstand und dem er dennoch immer imponieren wollte, eine Glatze scheren – ein geradezu revolutionärer Akt in der damaligen Zeit.

Jochen war schon als Jugendlicher trotz seiner herausragenden schulischen Leistungen auf seltsame Art kauzig, so dass ihn Viele für einen Spinner hielten, aber ich hatte schon immer ein Faible für Menschen, die anders waren, deshalb schreckte mich das nicht ab. Ich erinnere mich daran, wie wir als Teenager auf Feten unsere ersten bedeutenden erotischen Erfahrungen sammelten, bis auf Jochen, der irgendwie nur daneben stand. Während das Gros meiner Klassenkameraden und ich mit den Mädels engumschlungen Klammerblues tanzten oder uns in irgendeiner Ecke wälzten und herzklopfend unsere Hände unter Kleidungsstücke schoben, stand Jochen mit ein paar anderen Partygästen, die wie er kein Pendant gefunden hatten, mit einem Glas Bier in der Hand an einem der Stehtische und dozierte mit seiner markanten Stimme: „Schon die alten Griechen kannten drei Formen der Liebe, den Sexos, den Eros und die Agape!“ . Dabei schaute er neidvoll auf uns, die wir dabei waren, seine theoretischen Ergüsse in die Praxis umzusetzen, was ihm seinerzeit einfach nicht gelingen wollte. Er schrieb an eine gleichaltrige Schülerin, welche die unserem Gymnasium gegenüberliegende Hauswirtschaftsschule  – von uns „Pudding-Akademie“ genannt – besuchte, lateinische Liebesgedichte. Aber mal ehrlich, welche 16-Jährige fühlt sich schon animiert, wenn sie mit „dulcinea mea“ angeredet wird? Probleme mit den Frauen hatte er sein Leben lang, eine wirklich dauerhafte Beziehung hat er nie zustande gebracht, das war eines der Dramen seines Lebens.

Jochen hat recht bald nach dem Abi Jura studiert, während ich mich zunächst der Politologie, der Germanistik und den Theaterwissenschaften zuwandte und nach einer längeren Unterbrechung erst später zu den Rechtswissenschaften umschwenkte. Unter anderem deshalb war er zwei Jahre früher als ich mit dem Studium fertig und eröffnete eine Anwaltskanzlei. Später, als ich auch schon mehr als ein Jahr selbstständig war, haben wir unsere Kanzleien zusammengelegt, er war mein erster Sozius. Jochen schrieb hochtheoretische, bisweilen recht schwülstige Schriftsätze, juristisch waren sie nicht immer ausgegoren, aber sprachlich zumeist ganz besonders. Sein Problem war allerdings, dass er mit manchen Mandaten nichts anfangen konnte, deshalb neigte er dazu, ihm  unangenehme Akten immer wieder unter den großen Stapel zu schieben und irgendwann, wenn sie ihm allzu lästig wurden, verschwinden zu lassen, was wiederholt zu Problemen mit Mandanten führte. Diese und andere Unregelmäßigkeiten haben mich seinerzeit dazu bewogen, die Zusammenarbeit auf anwaltlicher Ebene zu beenden. Leider ist es ihm danach nie mehr gelungen, sich beruflich erfolgreich neu aufzustellen. Über Jahre hinweg haben meine späteren Sozien und ich noch versucht, ihm zu helfen, haben ihn in unserer Kanzlei in nichtanwaltlicher Position beschäftigt. Später haben auch andere Menschen, darunter ein lieber Kollege, versucht, ihn aufzufangen und Hilfestellungen zu geben, leider allenfalls mit vorübergehendem Erfolg.

Jochen hatte damals längst damit angefangen, jeden Abend sein Deckelchen in seiner Stammkneipe mit Strichen rund zu machen, ich denke, er hat sein ganzes  Leben lang einen Großteil seines Geldes in Alkohol und Tabak umgesetzt. Ganz verzweifelt habe ich über Jahre hinweg versucht, auf ihn einzuwirken, sich nicht völlig zu marodieren, dies allerdings nur mit bescheidenem Erfolg. Einmal ist es mir gelungen, ihn in eine Psychotherapie zu vermitteln. Damals hatte er noch eine ganz brauchbare Krankentagegeldversicherung, das hat ihm ein paar tausend D-Mark in die Kasse gespült, aber die waren auch schnell wieder weg gewesen.

Abends stand er dann in der Kneipe, hat schwülstige Reden gehalten und hauptsächlich Zuhörer gefunden, die unter ähnlichen Problemen litten wie er selbst. Ich bin irgendwann auf Abstand gegangen, weil ich das nicht mehr anhören konnte. Mir hat es in der Seele weh getan zu sehen, wie ein hochbegabter Mensch, der – abgesehen vom Sport – lauter Einser auf dem Abizeugnis stehen hatte, sein Leben und seine Talente so verschleudert, aber bekanntlich ist ja –  von Ausnahmen abgesehen – jeder selbst seines Unglückes Schmied. Der Alkohol war jedenfalls stärker als alle anderen gut gemeinten Einflüsse. Ein paarmal musste Jochen seine Stammkneipe wechseln, weil er sich zu sehr daneben benommen hatte im Suff, aber geändert hat das im Großen und Ganzen nichts. Es war traurig, das mit anzusehen.

Vor ein paar Jahren ist er beinahe bei einem Brand ums Leben gekommen, weil er im Rausch mit einer Zigarette im Bett eingeschlafen war, da war er schon reichlich abgedriftet und wir hatten kaum noch Kontakt miteinander. Ich habe ihn zuletzt vor ein paar Monaten gesehen, da saß er in einem Café und sprach mich auf angestrengte Weise an und stellte mich einem Kumpel vor, der mit ihm alkoholselig am Tischchen saß.

Vor einer guten Woche teilte mir ein Kollege, der ihm ab und zu Jobs gegeben hatte, mit, dass Jochen im Krankenhaus liege, er habe ihn angerufen und ihm berichtet, dass er Speisenröhrenkrebs  im Endstadium habe. Wir waren uns nicht sicher, ob das nicht eine seiner üblichen Übertreibungen war, aber als mich dann vor ein paar Tagen eine alte Bekannte anrief, die mal mit ihm zusammen war und ihn besucht hatte, war Gewissheit da.

Vor drei Wochen hatte er gegenüber seiner Schwester erstmals über gesundheitliche Beschwerden geklagt, erfuhr ich, als ich mich bei dieser erkundigte, nach einem unruhigen Wochenende bei ihr sei er dann aber wieder in sein Stammcafé entschwunden. Vor zwei Wochen sei er dann ins Krankenhaus gekommen, ohne Krankenversicherung ein gar nicht so einfaches Unterfangen, inzwischen habe er schon fast die Hälfte seiner Körpergewichts verloren und sei kaum mehr ansprechbar.“ Das gönnt man seinem ärgsten Feind nicht“, hat sie mir noch gesagt. Jetzt ist er tot, und für ihn ist es sicher das Beste, dass es dann doch so schnell gegangen ist.

Wie gesagt, heute wollte ich ihn im Krankenhaus  besuchen und Abschied nehmen. Das ist jetzt obsolet geworden.

Ich habe mir überlegt, ob ich all das hier schreiben soll, über Tote soll man ja nichts Schlechtes reden. Aber so war er halt, der Jochen, und alle, die ihn kannten, wissen das. Tragisch ist sein Leben verlaufen, tragisch jetzt auch sein Tod. Manches hätte er vielleicht in der Hand gehabt, aber das sagt sich leicht. Wir sind ja, wie wir sind, und es ist für jeden schwer, aus seiner Haut herauszukommen. Jochen jedenfalls hat es nicht geschafft, und das ist traurig genug. Ich frage mich, ob man nicht mehr hätte tun können, um ihm zu helfen, aber wir haben ja auch alle mit unserem eigenen Leben genug zu tun.

Jetzt hast du deinen Frieden, alter Freund, mach´s gut …..


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