Doch noch echte Überraschungen im Piratenprozess



Veröffentlicht am 22. Februar 2012 von

Wandskulptur im Hamburger Landgericht

„Same Procedure as every day“ hatte ich am Morgen noch über den heutigen Sitzungstag gebloggt, aber dann gab es doch gleich mehrere Überraschungen. Da teilte der Vorsitzende nämlich nach der ersten längeren Unterbrechung mit, dass um 9:56 Uhr eine  Nachricht von Interpol Neu Delhi angekommen sei, aus der sich ergebe, dass die Anschriften und aktuellen Aufenthalte der indischen Zeugen, die der Verteidiger des ältesten Angeklagten benannt hatte, ermittelt worden seien. Bislang hatte das Gericht die Zeugen als unerreichbar angesehen und alle auf deren Vernehmung gerichteten Anträge abgelehnt. Es müsse nun zunächst einmal geklärt werden, ob es sich bei diesen Zeugen tatsächlich um Besatzungsmitglieder der indischen Dhau handele, die von den Piraten als Mutterschiff entführt worden war, bevor der Überfall auf den deutschen Frachter MS Taipan erfolgte. Die Kammer werde gegebenfalls versuchen, mit den Zeugen in telefonischen Kontakt zu treten, um herauszufinden, ob diese bereit sind, vor einem deutschen Gericht zu erscheinen. Das könne dauern.

Im Hinblick darauf, dass das Verfahren schon sehr lange dauere und der Hanseatische Oberlandesgericht auf meinen Antrag hin für den einzigen vom Gericht als solchen anerkannten Jugendlichen eine Deadline bis spätestens Ende März gesetzt habe, um entweder zu einem Urteil zu kommen oder die Freilassung zu verfügen, müsse – so Dr. Steinmetz – nun wirklich eine Abtrennung erwogen werden. Für die beiden anderen jungen Angeklagten, die als Heranwachsende wohl auch nach Jugendrecht zu beurteilen seien, gelte im Prinzip das Gleiche. Wieder wurden alle Angeklagten und ihre Verteidiger nach ihrer Meinung gefragt. Bis auf den ältesten Angeklagten erklärten alle, dass sie eine sofortiges Ende der Beweisaufnahme wünschten und darum bäten, auch ihr Verfahren abzutrennen. Nach längerer Beratung verkündete die Kammer schließlich ihre Entscheidung: Das Verfahren gegen die 3 jungen Angeklagten und gegen 2 der 7 Ewachsenen wurde abgetrennt. Gegen die 5 anderen Erwachsenen soll im Ursprungsverfahren weiterverhandelt werden.

In Ausführung der Abtrennungsverfügung wurden 5 Angeklagte aus dem Saal geführt. Gegen die anderen wurde die Verhandlung fortgesetzt. Eigentlich wollte das Gericht jetzt die Beweisaufnahme schließen und um die Schlussvorträge, im Juristendeutsch „Plädoyer“ genannt, bitten. Dann aber kam die nächste Überraschung. Rechtsanwalt Thomas Jung, Mitverteidiger eines der beiden Heranwachsenden, der wiederholt behauptet hatte, zur Tatzeit erst 13 Jahre alt und damit strafunmündig gewesen zu sein, gab eine Erklärung ab. Er habe gerade eben mit Hilfe des Dolmetschers von seinem Mandanten erfahren, dass dieser gestern in der Jugendhaftanstalt mit einem anderen Gefangenen einen Größenvergleich gemacht hätte. Beide hätten ihre Körpergröße gemessen und dabei sei seinem Mandanten aufgefallen, dass er seit seiner Inhaftierung um 4 Zentimeter gewachsen sei. Das stehe möglicherweise im Widerspruch zu den Feststellungen in einem Altersbestimmungsgutachten, wonach sein Mandant zur Tatzeit mindestens 20 Jahre alt gewesen sein soll. In dem Gutachten heiße es nämlich, aufgrund von Röntgenaufnahmen des Handwurzelknochens sei davon auszugehen, dass das Knochenwachstum bereits vollständig abgeschlossen sei. Unter anderem hieraus hätte man die Schlussfolgerung auf ein Lebensalter von mindestens 20 Jahren gezogen. Die Verteidigung wisse noch nicht, wie sie mit der neuen Information umgehen solle, wolle aber der Fairness halber das Gericht in Kenntnis setzen.

Der Vorsitzende war „not amused“. Es sei doch Geschäftsgrundlage für die Abtrennung gewesen, dass die Beweisaufnahme geschlossen werden könne. Jetzt müsse das Gericht unabhängig von einem etwaigen Antrag der Verteidigung von Amts wegen prüfen, ob die Feststellungen des Alterbestimmungsgutachtens noch haltbar seien. Also könne die Beweisaufnahme noch nicht geschlossen werden. Die Kammer werde erwägen, ob das Verfahren gegen den  betreffenden Angeklagten nun seinerseits wieder abgetrennt und gegebenenfalls wieder mit dem Ursprungsverfahren verbunden werden müsse. Ganz schön verwirrend, oder?

Das heutige Ende vom Lied war, dass die Sitzung erst einmal auf den kommenden Mittwoch vertagt wurde. Bis dahin will die Kammer geklärt haben, wie sie mit der neu eingetretenen Situation umgeht. Vor allem soll der betreffende Angeklagte zunächst noch einmal vom medizinischen Dienst der Haftanstalt vermessen werden, um im Freibeweisverfahren zu prüfen, ob der behauptete Wachstumsschub überhaupt stattgefunden hat. Dann wird man weitersehen.

Ich warte jetzt erst einmal den weiteren Verlauf ab. Derzeit gehe ich davon aus, dass ich am kommenden Mittwoch oder Donnerstag plädieren werde. Weitere Überraschungen sind aber nicht ausgeschlossen. Wenn alles gut läuft, könnte am 5. März ein Urteil verkündet werden. Ob das der Fall sein wird, hängt neben den schon genannten Fragen auch davon ab, ob an diesem Tag überhaupt die Anwesenheit des Gerichts und der Verteidigung sichergestellt werden kann. Das ist noch unklar, weil am 5. März die Hamburger Frühjahrsferien beginnen und einige Prozessbeteiligte schon Urlaub geplant haben. Ich selbst müsste ebenfalls meinen Urlaub verschieben, obwohl ich kein Hamburger bin. Aber das würde ich in Kauf nehmen, um endlich zu einem Ende in diesem monströsen Verfahren zu kommen. Mein junger Mandant hat schließlich einen Rechtsanspruch auf eine zügige Entscheidung, auch  wenn er diese nach dann 80 Verhandlungstagen längst nicht mehr bekommen kann.

 

 

 


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