Dogmatismus versus Pragmatismus: Richterliche Akribie lässt Prozessende in noch weitere Ferne rücken



Veröffentlicht am 7. Juni 2012 von

Hamburger Strafjustizgebäude

Das war gestern Tag 90 im Hamburger Piratenverfahren. Außerhalb der Hauptverhandlung wurde der Verteidigung zunächst Gelegenheit gegeben, sich ab 8 Uhr ein Video anzuschauen, das ein als Zeuge geladener Fernsehjournalist in Indien gedreht hatte. Es zeigt ein Interview mit zwei  früheren indischen Seeleuten, die Besatzungsmitglieder der Dhau Hud Hud gewesen sind, welche bei der Kaperung des deutschen Frachters MS Taipan im April 2010 als sogenanntes „Mutterschiff“ eingesetzt worden war. Bislang hat die Verteidigung eines Angeklagten vergeblich versucht, die Vernehmung der beiden Inder in der Hauptverhandlung oder deren kommissarische Vernehmung in Indien durchzusetzen. Das war unter anderem auch an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der indischen Zeugen gescheitert.

Das Interview war in der vor allem in Nordindien und in Pakistan verbreiteten Sprache Urdu geführt worden. Folglich hatte das Gericht einen Sprachsachverständigen für Urdu bestellt, der eine verschriftete Übersetzung des 27minütigen Interviews vorgelegt hatte, die allerdings ziemlich lückenhaft war. Aufgrund von Nebengeräuschen und angeblich schlechter Aufnahmequalität hatte der Sachverständige viele Passagen nicht verstanden.

Ab 8:45 Uhr wurde das Video dann in die Hauptverhandlung eingeführt. Anwesend war als Zeuge auch der Fernsehjournalist, der das Interview geführt hatte und der selbst aus Indien stammt und der Sprache Urdu mächtig ist. Und das vielleicht besser als der Sprachsachverständige, so war jedenfalls mein subjektiver Eindruck. Der Zeuge machte wiederholt Anläufe, bei der etwas holperigen Übersetzung des Interviews durch den Sachverständigen zu helfen. Das aber wurde durch den Vorsitzenden Richter Dr. Bernd Steinmetz jeweils sehr bestimmt zurückgewiesen. Mehrfach sah er sich veranlasst, dem Zeugen den Unterschied zwischen Zeugenstellung und Sachverständigenstatus zu verdeutlichen. „Sie können uns als Zeuge gerne helfen, wenn wir Sie später nach dem Inhalt des Interviews fragen, aber die Übersetzung ist Aufgabe des Sachverständigen“, betonte der Vorsitzende so lange, bis sich der Zeuge schließlich leicht resignierend zurücklehnte und gequält sein Verständnis bekundete. So dauerte es denn schließlich bis kurz vor 15 Uhr, das waren – unter Berücksichtigung einer einstündigen Mittagspause – rund 5 Stunden, bis das 27minütige Interview ins Deutsche und vom Deutschen dann ins Somalische übersetzt war. Eine durchaus anstrengende Veranstaltung, wie auch der Vorsitzende mehrfach betonte.

Ich fragte mich wiederholt, warum man nicht den Zeugen, der ja das Interview geführt hatte und der auch die für den Sachverständigen akustisch schwierigen Passagen kannte, nicht einfach übersetzen ließ und den Sachverständigen lediglich zur Kontrolle einsetzte. Das hätte sicher eine erhebliche Zeiteinsparung mit sich gebracht und wohl nicht zu anderen Erkenntnissen geführt. Aber ein Zeuge ist ja nun mal kein Sachverständiger, sondern eben nur ein Zeuge, auch wenn er vorliegend sicher den erforderlichen Sachverstand hatte ….

Die akribische Vorgehensweise der Kammer, die das ursprünglich auf dreieinhalb Monate und etwas mehr als 30 Verhandlungstage terminierte Verfahren prägt, führte am Nachmittag zu einem leicht fatalen Ergebnis. Nachdem das Gericht den Journalisten noch eine gute Stunde zeugenschaftlich befragt hatte und die Staatsanwaltschaft – wie zumeist – keine Fragen hatte, wurde das Fragerecht an die Verteidigung weitergereicht. Da war es schon fast 16 Uhr.   Und es war von vornherein festgelegt, dass um 16:30 Uhr Schluss ist.

Rechtsanwalt Wallasch, für den die beiden indischen Zeugen besonders wichtig sind und der diese ursprünglich auch benannt hatte, machte geltend, dass er kaum die Möglichkeit sehe, dass die Befragung des Zeugen durch die anwesenden Verteidiger bis 16:30 Uhr beendet wäre. Er selbst habe eine ganze Reihe von Fragen.  Er sei aber seit 4 Uhr morgens auf den Beinen, um von Frankfurt kommend rechtzeitig zur Verhandlung in Hamburg zu erscheinen zu können. Und die Inaugenscheinnahme der Videos mit Übersetzung sei in der Tat anstrengend gewesen. Er sehe sich nicht mehr in der Lage, den Zeugen heute noch zu befragen.

Er wolle jetzt nicht in öffentlicher Hauptverhandlung mitteilen, seit wann das Gericht auf den Beinen sei, um die Hauptverhandlung vorzubereiten, konterte der Vorsitzende mit der ihm bisweilen eigenen Sensibilität. Aber er sehe auch, dass die Vernehmung des Zeugen durch die Verteidigung heute wohl nicht zu Ende kommen werde. Der Zeuge werde daher wohl noch ein weiteres Mal erscheinen müssen, auch wenn er dem Gericht zuvor mitgeteilt habe, dass er in absehbarer Zeit nicht mehr zur Verfügung stehe.

Das wiederum gefiel dem Zeugen gar nicht. Er wies – aus seiner Sicht sicher zu Recht – darauf hin, dass er sich trotz seines journalistischen Schweigerechts nun 2 volle Tage als Zeuge zur Verfügung gestellt habe und dass er zuvor auf die zukünftige zeitliche Verhinderung hingewiesen habe. Er müsse in den nächsten Wochen zunächst einen Fernsehbeitrag fertigstellen und danach habe er Urlaub mit der Familie geplant, die ihn in den letzten Wochen kaum zu Gesicht bekommen habe.

Er sei Zeuge und habe die Pflicht, vor Gericht zu erscheinen, wenn er geladen werde, hielt ihm der Vorsitzende entgegen, diese Pflicht könne auch mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden. Das gefiel dem Zeugen erst recht nicht. Er lasse sich vom Gericht nicht bedrohen, meinte er ganz ruhig, als Journalist müsse er überhaupt nicht aussagen, das habe er zuvor noch mit dem Justitiar seines Fernsehsenders geklärt. Und unter diesen Umständen werde er gewiss nicht kommen. Der Vorsitzende versuchte den Dampf, den er eben noch entfacht hatte, wieder aus der Luft zu nehmen. Von einer Drohung könne doch keine Rede sein, er habe ja nur auf die Zeugenpflichten hingewiesen und die Kammer sei dem wichtigen Zeugen ja für seine bisher gezeigte freiwillige Mitwirkung dankbar. Aber die Verteidigung habe auch ihre Fragerechte und es gehe ja um erhebliche Freiheitsstrafen. Immerhin habe die Staatsanwaltschaft vor Monaten schon einmal zweistellige Strafen für mehrere Angeklagte beantragt. Von daher müsse schon eine Möglichkeit zu einer erneuten Vernehmung gefunden werden. Damit könne man auch nicht drei Monate warten, bis der Zeuge seine Arbeit und seinen Urlaub hinter sich gebracht hätte. Und außerdem müsse der Zeuge gegebenenfalls selbst dann vor Gericht erscheinen, wenn er sich dazu entschließe, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen. Er könne nämlich verlangen, dass der Zeuge dies persönlich in der Hauptverhandlung erklärt.

Eijeijei, wieder so ein Fauxpas, dachte ich. Was ist denn, wenn der Zeuge jetzt sofort eine entsprechende Erklärung abgibt? Und warum überhaupt diese – vermutlich gar nicht beabsichtigte – Schärfe? Hätte die Kammer die Verhandlung etwas gestrafft und bei der Inaugenscheinnahme des Videos etwas mehr Pragmatismus gezeigt, wäre die Vernehmung des Zeugen längst erledigt gewesen …

So sind wir letztlich auseinander gegangen, ohne dass geklärt worden ist, ob und wann der Zeuge erneut vernommen wird. Man werde sich telefonisch mit ihm in Verbindung setzen und gegebenenfalls auch mit dem Hausjuristen des Fernsehsenders sprechen, meinte der Vorsitzende, bevor er das Ende der Sitzung verkündete.

Am 14. Juni geht´s weiter mit dem Piratenprozess. Derzeit sind noch Verhandlungstage bis Ende August terminiert, die wegen der Ferienzeit teilweise wochenlang auseinanderliegen. Es darf bezweifelt werden, dass dann wirklich Schluss ist mit dem ersten Piratenverfahren seit 400 Jahren auf deutschem Boden.

Ich erinnere mich noch, wie der Vorsitzende vor einem Jahr meine Prognose, dass sich das Verfahren voraussichtlich bis ins Jahr 2012 hinziehen werde, in den Bereich der Fantasie verwiesen hat. Ich will jetzt nichts Neues prognostizieren, bis zum Jahr 2013 sind es ja noch ein paar Monate.

Mich tröstet ein wenig, dass mein Mandant wenigstens auf freiem Fuß ist. Das macht es leichter für ihn und auch für mich.

 

 


Kategorie: Strafblog
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