Faires Verfahren?! Sprachunkundige Angeklagte haben Anspruch auf Übersetzung von Urteilen und Strafbefehlen



Veröffentlicht am 19. Juni 2014 von

rp_Foto-1-169x300.pngGanz wichtig ist der Hinweis des Kollegen Burhoff im JURION Strafrecht Blog auf einen Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 12.5.2014, wonach nicht nur nicht rechtskräftige Urteile, sondern auch Strafbefehle einem sprachunkundigen Angeklagten in seine Muttersprache zu übersetzen sind. Andernfalls löst die Zustellung des bloß deutschsprachigen Strafbefehls oder Urteils nicht die Einspruchs- oder Revisionsbegründungsfrist aus, weil die Zustellung unwirksam ist.

Die Entscheidung der Stuttgarter Richter war notwendig, weil es der Gesetzgeber bei der gesetzlichen Neuregelung der §§ 187 Abs. 2 GVG (Gerichtsverfassungsgesetz) und 37 Abs. 3 StPO (Strafprozessordnung) im vergangenen Jahr unterlassen hatte, in die letztgenannte Vorschrift auch den Strafbefehl explizit aufzunehmen, der ja in seinen Auswirkungen – wenn er rechtskräftig wird – einem Urteil nach durchgeführter Hauptverhandlung gleichsteht.

Das Landgericht Stuttgart argumentiert in überzeugender Weise unter Bezugnahme auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung zum Anspruch auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und zum Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG sowie auf die europarechtlichen Vorgaben des Art 3 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64/EU, wonach sicherzustellen ist, „dass verdächtige oder beschuldigte Personen innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen,  und um ein faires Verfahren zu gewährleisten“.

Im vorliegenden Fall war ein sprachunkundiger Ausländer am Stuttgarter Flughafen bei der Einreise von der Bundespolizei als Beschuldigter vernommen wurden. Ihm war – wohl damit er weiterreisen durfte – zur Auflage gemacht worden, einen Zustellungsbevollmächtigen zu benennen. Als solcher wurde ihm ein ihm bis dahin sicher nicht bekannter Justizoberinspektor auf´s Auge gedrückt. In dem betreffenden Formular hatte der Beschuldigte angekreuzt, dass er im Falle eines Strafbefehls eine Übersetzung in seine Muttersprache verlange.

Im August 2013 war dann gegen den Mann durch das Amtsgericht Nürtingen ein Strafbefehl erlassen und dem benannten Bevollmächtigten zugestellt worden. Wann der Beschuldigte hiervon Kenntnis erlangt hat, ergibt sich aus dem Beschluss nicht. Jedenfalls hat sich im Dezember 2013 eine Anwältin als Verteidigerin bestellt und gegen die Versäumung der zweiwöchigen Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Gleichzeit hat sie „Einspruch/Berufung“ gegen den Strafbefehl eingelegt.

Das Amtsgericht Nürtingen hat den Einspruch als unzulässig und den Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet verworfen. Hiergegen hat der Beschuldigte über seine Verteidigerin sofortige Beschwerde eingelegt. Die Stuttgarter Richter haben klargestellt, dass ein Wiedereinsetzungsantrag nicht erforderlich war, weil die Einspruchsfrist mangels Zustellung einer Übersetzung noch gar nicht zu laufen begonnen hätte. Die Zustellung eines nur deutschsprachigen Strafbefehls sei unwirksam gewesen.

Der Entscheidungstenor lautet:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Nürtingen vom 11.03.2014 aufgehoben.

2. Die Sache wird zur Zustellung der schriftlichen Übersetzung des Strafbefehls an das Amtsgericht Nürtingen zurückgegeben.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten hierin erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zu Last.

Es lohnt, die Begründung des Beschlusses im Wortlaut zu lesen. Da kann man manches über die Rechte von sprachunkundigen Menschen, seien sie Ausländer oder im Ausnahmefall auch Deutsche, lernen.


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