Freispruch im 2. Anlauf: Warum in aller Welt wurde der Hauptbelastungszeuge nicht im Ermittlungsverfahren vernommen?



Veröffentlicht am 15. April 2013 von

 

Ist Strafverfolgung noch lege artis, wenn der Hauptbelastungszeuge, der über seinen Anwalt eine in sich nur beschränkt nachvollziehbare Strafanzeige erstattet hat, nicht zum Tatgeschehen vernommen worden ist? Müsste der Zeuge nicht spätestens dann vernommen werden, wenn seine Beschuldigungen im deutlichen Widerspruch zu den Angaben von anderen (Polizei-)Zeugen stehen? Die Antwort liegt wohl schon in der Fragestellung, aber aus Verteidigersicht kommt es immer wieder zu unsäglichen Anklagen unter deutlicher Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes. Frei nach dem Motto: Mal sehen, was die Hauptverhandlung erbringt, es wird schon was dran sein an der Beschuldigung.

Am vergangenen Freitag habe ich in einer Strafsache wegen gefährlicher Körperverletzung vor dem Amtsgericht Nettetal verteidigt. Im ersten Anlauf war mein Mandant noch anderweitig verteidigt gewesen, da hatte das Gericht nach kurzer Erörterung  vertagt und den Vorschlag gemacht, die Sache mit einer kurzen Bewährungsstrafe zu erledigen. Das solle der Mandant sich – auch im Hinblick auf eine andere vorläufig eingestellte Sache – doch überlegen.

Was war passiert? Der Angeklagte arbeitet seit Jahren als Türsteher in einer Discothek. Er ist der Chef der Sicherheitstruppe und nicht vorbestraft. Man schätzt ihn für sein Augenmaß und seine Fähigkeit zur Deeskalation von Konflikten. In einer lauen Sommernacht vor fast zwei Jahren beobachtete der Mann vor der Discothek zwei offensichtlich betrunkene junge Leute, von denen einer mit einer Pistole herumfuchtelte und diese auch mehrfach durchlud. Weil er sich um die Sicherheit der Disco-Besucher sorgte, alarmierte der Sicherheitschef die Polizei. Die kam dann auch wenig später mit einem Streifenwagen. Zwei Polizisten gingen mit gezogenen Waffen auf die beiden jungen Leute zu. Einer von ihnen – der mit der Pistole – gab Fersengeld und lief davon. Mindestens einer der beiden Polizisten und ein Mitarbeiter des Ordnungsamtes, der ebenfalls vor Ort war, liefen dem Flüchtigen hinterher und stellten diesen wenig später. Die Pistole – eine Schreckschusswaffe, wie sich dann herausstellte – hatte er zwischendurch weggeworfen. Der andere blieb angeblich in der Obhut eines oder mehrerer Türsteher der Discothek zurück. Später blutete er ziemlich stark und musste mit einer Gesichtsknochenfraktur ins Krankenhaus. Deshalb saß mein Mandant jetzt auf der Anklagebank.

Der Geschädigte hat gegen meinen Mandanten und gegen einen namentlich nicht benannten Polizeibeamten über seinen Anwalt Strafanzeige erstattet. Gefährliche Körperverletzung wurde dem Sicherheitsmann vorgeworfen, unterlassene Hilfeleistung dem Polizeibeamten. Der soll nämlich daneben gestanden und zugeschaut haben, als mein Mandant dem am Boden liegenden Geschädigten mehrfach ins Gesicht getreten hat. Getreten haben soll, muss man wohl eher sagen. Aus der Schilderung in der Strafanzeige ergibt sich nicht, dass der Geschädigte gesehen hat, wer zugetreten hat. Auch nicht, wie er an den Namen meines Mandanten gekommen ist. Mit den Worten „Auf den Boden, auf den Boden!“, sei er von einem Polizeibeamten mit „brachialer Gewalt“ und ohne Grund umgerissen worden, hatte der der Mann vorgetragen. Gleich darauf sei er mehrfach getreten worden, der Polizist habe unmittelbar daneben gestanden und sei nicht eingeschritten.

Der Polizeibeamte hatte das dementiert. In seiner Anwesenheit sei niemand geschlagen oder getreten worden. Er sei kurz nach seinem Kollegen dem flüchtigen Pistolenfuchtler hinterher gelaufen. Er habe nicht gesehen, wie es zu den Verletzungen gekommen sei. Die habe er erst nach seiner Rückkehr konstatiert.

Ich habe gleich nach der Anklageverlesung moniert, dass keine sorgfältige Amtsermittlung stattgefunden habe. Die Anklage hätte so nicht zugelassen werden dürfen. Das sah der Richter anders.

Dann wurde der seinerzeit verletzte Hauptbelastungszeuge gehört. Nein, er wisse nicht, wer ihn getreten habe, sagte der Mann. Das habe er auch nie behauptet. Aber der Polizist habe definitiv daneben gestanden.

„Definitiv nicht!“, meinte der Polizist. Er habe noch zu einem Türsteher gesagt, er solle auf den Mann aufpassen. Dann sei er dem anderen hinterher gelaufen. Welcher Türsteher da war, das könne er beim besten Willen nicht sagen.

Ein Dicothekengast hatte noch behauptet, er habe gesehen, wie mein Mandant dem Verletzten die Füße weggetreten habe, als dieser weglaufe wollte. Niemand habe ihm die Füße weggetreten, meinte der wiederum, er habe ja auf dem Boden gelegen und ans Weglaufen nicht einmal gedacht.

Bei so viel Unklarheit hat auch der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft Freispruch beantragt, der dann auch verkündet wurde.

Vielleicht hätte man den Zeugen doch schon im Ermittlungsverfahren anhören sollen, mag sich der Sitzungsvertreter gedacht haben. Aber der war noch Referendar, da hält man noch was von Prinzipien …


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