Das Berufungsverfahren, in dem ich seit kurzem verteidige, hat es in sich. Der Mandant ist erstinstanzlich ohne meine Mitwirkung im Zusammenhang mit Stalkingvorwürfen, angeblicher sexueller Nötigung, Fahren ohne Fahrerlaubnis und Einiges mehr zu einer Freiheitsstrafe von knapp dreieinhalb Jahren verurteilt worden. (Angebliches) Tatopfer ist – und das macht die Sache delikat – eine Kripobeamtin, die etliche Jahre mit dem Mann liiert war und recht lange bei der „Sitte“ gearbeitet hat. Die Frau weiß, worauf es bei der Glaubhaftigkeitsüberprüfung ankommt, darf man vermuten. Und weil sie halt Polizeibeamtin ist, hat eine ganze Phalanx von Polizisten eifriger als sonst – so mein Eindruck – gegen den ach so bösen Aggressor ermittelt. Da wurde dann auch schon mal ein paar Wochen lang die Straße, wo der Mann sich gewöhnlich tummelt, gem. § 100 h StPO per Videokamera observiert und der Betreiber von Starenkästen wurde außerhalb der normalen Auswertung von Blitzerfotos befragt, ob dort ein bestimmtes Fahrzeug des Beschuldigten mit Geschwindigkeitsüberschreitung registriert und fotografiert worden ist.
Fündig geworden ist man insoweit allerdings nicht. In der Akte findet sich allerdings ein polizeilicher Vermerk, der aus Verteidigersicht recht grausig klingt. Da heißt es nämlich tatsächlich, die damals zuständige Staatsanwältin halte die Übersendung von Vorgängen oder Berichten ohne eindeutige Identifizierung von Fahrzeug und Fahrer für „eher kontraproduktiv“, da dies „dem Verteidiger … eher ent- als belastende Argumentationshilfen liefere“. Mit anderen Worten: Bitte keine polizeilichen Erkenntnisse zur Akte bringen, die der Verteidigung dienlich sein können. Der ermittelnde Polizeibeamte hat der Staatsanwältin nicht etwa entgegengehalten, dass dies doch schon aus Gründen des fairen Verfahrens und wegen des Erfordernisses der Vollständigkeit der Akten nicht gehe, sondern lediglich, dass auch Teilerkenntnisse im Sinne einer Indizienkette gegen den Beschuldigten verwendet werden könnten. Soviel zur Wahrhaftigkeit von Ermittlungen. Immerhin, der betreffende Vermerk findet sich erstaunlicher Weise in der Akte wieder, vielleicht ist die Brisanz seines Inhaltes ja verkannt worden.
Zum Ergebnis der mehr als dreiwöchigen Videoüberwachung findet sich in der Akte kein Wort. Nur die Anordnung der Überwachung und die Beendigung der Maßnahme sind dokumentiert. Müsste nicht wenigstens dargelegt sein, ob Fahrzeuge des Beschuldigten videografiert wurden, wer gegebenenfalls am Steuer saß, oder ob sich keinerlei Erkenntnisse ergeben haben? Wobei die Tatsache, dass in diesen drei Wochen kein Fahrzeug des Beschuldigten die Straße passiert hat, ja auch eine Erkenntnis wäre, die vielleicht der Verteidigung Argumente liefern könnte.
Das Verfahren hat erstinstanzlich 20 Verhandlungstage gedauert, und ich kann mich wegen vieler Schwächen des angefochtenen Urteils und wegen einer Vielzahl merkwürdiger Besonderheiten, über die ich noch berichten werde, des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass der in-dubio-Grundsatz reichlich mit Füßen getreten wurde. Ein großer, starker Mann gegen eine kleine, schwache Polizeihauptkommissarin, die sich der Unterstützung ihrer Kollegen und der Justiz wohl in jeder Phase sicher sein durfte. Obwohl ja bei komplexen Beziehungskisten (welche Beziehung ist eigentlich nicht komplex?) besondere Vorsicht geboten sein sollte und auch Polizist(inn)en privat ganz anders sein können, als es nach Außen scheint.
Jetzt ist die am Freitag begonnene Hauptverhandlung erst einmal ausgesetzt worden. Ich habe beantragt, Akten zu vervollständigen und Erkenntnisse darüber einzuholen, was die seinerzeitige Videoüberwachung denn erbracht hat. Anfang Juli fängt das Berufungsverfahren dann noch einmal von vorne an, und ich werde versuchen durchzusetzen, dass das Verfahren wirklich fair und unter Beachtung des Zweifelsgrundsatzes durchgeführt wird. Es wird auf jeden Fall spannend werden.
Kategorie: Strafblog
Permalink: Ist das noch ein faires Verfahren? Staatsanwaltschaft will Erkenntnisse, die der Verteidigung entlastende Argumentationshilfe liefern könnte, lieber nicht zur Akte nehmen!
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