Kommt eine Schwangere zum Bäcker … – Mein Freund Norbert ist tot



Veröffentlicht am 12. März 2012 von

 

Gleich dreimal erreichte mich die Nachricht von Norberts Tod während meines derzeitigen Mallorca-Aufenthalts. Drei Menschen, die mich gut kennen, meinten, dass ich das wissen sollte. Die Beerdigung ist am Mittwoch, und ich werde nicht da sein. Aber irgendwie auch doch …

Ich bin ein wenig beschämt, dass ich Norbert seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr besucht habe. Jetzt, wo er tot ist, ist es zu spät dafür. Die Zeit, die Vielzahl der auswärtigen Gerichtstermine, hundert private Belange haben mich daran gehindert, bei ihm vorbeizufahren. Vielleicht auch die Tatsache, dass es zuletzt zunehmend anstrengend war, sich mit ihm zu unterhalten.

Ich habe die ganzen 80er Jahre mit Norbert in selben Haus gewohnt. Er war Lehrer und ein hervorragender Fotograf. Er hat mir das Fotografieren so richtig beigebracht und mich eine neue Art des Sehens gelehrt. Dafür bin ich ihm noch heute dankbar. Norbert war kauzig und unglaublich kreativ. Ich  habe ihm immer wieder Mal eines seiner Bilder abgekauft, die hängen jetzt noch in meinem Haus.

Anfang der 90er Jahre bin ich aus meiner damaligen Wohnung ausgezogen. Norbert wurde eine Zeit später Direktor einer Gesamtschule in Düsseldorf und zog in die Landeshauptstadt. Wir haben nach ein paar Jahren den Kontakt verloren. Ich habe immer wieder mal versucht, ihn telefonisch zu erreichen, aber das hat nie geklappt.

Vor  anderthalb Jahren telefonierte ich mit einem gemeinsamen alten Bekannten und erkundigte mich nach Norbert. Ob ich denn nicht wisse, was mit ihm los ist, fragte er mich. Norbert sei ein Schwerstpflegefall geworden, er leide an der heimtückischen ALS-Krankheit, der auch der Düsseldorfer Maler Jörg Immendorf zum Opfer gefallen ist. Norbert sitze im Rollstuhl, könne sich kaum noch bewegen und sprechen könne er auch nicht mehr.

Gemeinsam mit Herbert (so heißt der Bekannte) und seiner Frau bin ich zu Norbert gefahren. Er war in einem Haus seines Bruders in einem abseits gelegenen Kaff im deutsch-holländischen Grenzgebiet untergebracht. Selfkant nennt man die Gegend und die Anfahrt dorthin führt über die Dörfer und dauert von Mönchengladbach aus eine gute Stunde. Eine polnische Pflegerin namens Malgorzata führte uns ins Wohnzimmer, wo wir Platz nahmen. Herbert hatte mich darauf vorbereitet, dass die Konversation mit Norbert mühevoll werden würde. Malgorzata schob den Rollstuhl ins Wohnzimmer. Norbert saß kerzengerade in seinem Gefährt und schaute mich aus wachen Augen an. Ich meinte, einen Ausdruck der Freude darin zu sehen. Aus seinem Mund hing das Ende eines Tempotuchs, das von seiner Pflegerin alle paar Minuten gewechselt wurde, um den Speichel aufzufangen.

Der Rollstuhl wurde an einen Tisch geschoben, auf dem ein in Folie eingeschweißtes Blatt Papier mit allen Buchstaben des Alphabets, allen Zahlen von 0  bis 9 und ein paar Textfeldern lag, auf denen „Ja“ und „Nein“, „Ich habe Hunger“,  „Ich habe Durst“ und „Ich will schlafen“ geschrieben stand. Ich bin rüber zu Norbert, habe seine Wange gestreichelt, ihm in die Augen geschaut und gesagt, dass ich mich freue, ihn zu sehen. Er saß völlig regungslos in seinem Rollstuhl, nur die Augen rollten hin und her und sein Gesicht rötete sich.

Ich nahm an der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz und Malgorzata legte seine Hände auf die Tischplatte. Sie bugsierte einen Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand und Norbert begann, diesen mit der Spitze in Zeitlupentempo auf einen Buchstaben der Alphabettafel zu schieben. Herbert und seine Frau Anke kannten die Prozedur schon und warteten geduldig, bis Norbert so viele Buchstaben angezeigt hatte, dass man beginnen konnte, das gemeinte Wort zu raten. Wenn wir den richtigen Begriff herausgefunden hatten, schob Norbert die Bleistiftspitze auf „Ja“, dann konnte es weitergehen.

Ich brauchte einige Zeit, um meine Beklemmung abzulegen. Es ist eine bedrückende Erfahrung zu sehen, wie ein Mensch, der immer voller Kreativität und Bewegung war, zum Gefangenen seines Körpers geworden und vollständig auf fremde Hilfe angewiesen ist. Wie ein Lehrer, dessen Medium zum Vermitteln von Wissen die Sprache ist, die Stimme verloren hat und sich nur noch  unendlich langsam mit primitiven Mitteln artikulieren kann. Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, warum ihm nicht längst andere, moderne Hilfsmittel zu Verfügung gestellt wurden. Es gibt Computertechnik, die Augenbewegungen in Stimme umsetzt, das wäre eine große Erleichterung für Norbert, dachte ich. Er bekommt doch eine gute Rente und sein Bruder ist auch nicht arm. Ich nahm mir vor, mit seinem Bruder über das Thema zu sprechen.

Ich erzählte Norbert von meinem Leben in den letzten Jahren, kramte alte gemeinsame Erinnerungen heraus und versuchte, die Zeit zu füllen. Er sah mich mit seinen blauen Augen an und ich versuchte herauszufinden, was er bei meinen Erzählungen empfand. Ich erinnerte mich daran, dass er früher immer über meine Witze gelacht hatte, also gab ich einige von meinen neueren Errungenschaften zum Besten. Norbert wurde puterrot im Gesicht und begann zu husten, so dass ich Angst bekam, er würde ersticken. „Norbert lacht nur“, meinte Herbert, und das beruhigte mich ein wenig.

Ganz langsam schob Norbert den Bleistift über die Buchstabentafel. „Schwangere“ entzifferten wir, und „Bäcker“.  „Brot“ lasen wir und Norbert bestätigte das. „Sachen gibt´s“, meinte Norbert. Anke, Herbert und ich sahen uns verständnislos an. Ob die Bäckersfrau schwanger sei, fragten wir, was Norbert verneinte. Ob er ein Brot haben wolle? Wieder ein „Nein“. Wir rätselten eine Viertelstunde lang, dann gaben wir auf.

Beim nächsten Mal besuchte ich Norbert allein. Ich zeigte ihm Fotos von meinen Reisen und meinem jetzigen Leben und las ihm aus Hertha Müllers grandioser „Atemschaukel“ vor. Ich schaute mir sein Wohnzimmer an und entdeckte viele Utensilien, die mir noch aus der Zeit unseres Lebens im selben Haus bekannt waren. Die alte Revox-Tonbandmaschine, eine Menge Langspielplatten, Kameras mit Zubehör, einen alten Atari-Computer und natürlich viele Fotos, die an den Wänden hingen und in  zahlreichen Mappen abgelegt waren. „Wie war das mit der Schwangeren und dem Bäcker?“, fragte ich ihn. Norbert schob seinen Stift über die Tafel. Ich sinnierte lange, dann wusste ich es. Norbert hatte uns einen Witz erzählt. Und der geht so:

Kommt eine Schwangere zum Bäcker und sagt: „Ich bekomme ein Brot.“ Der Bäcker schaut auf ihren Bauch und sagt: „Sachen gibt´s!“

Norbert erstickte fast vor Freude, als ihm klar wurde, dass ich seinen Witz verstanden hatte.

Ich habe Norbert eine Zeit lang mehr oder weniger regelmäßig besucht. Es war immer anstrengend, aber es tat auch gut. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass es ihm besser ging, aber beim nächsten Mal war er dann schnell müde und brach den Besuch ab.

Zuletzt habe ich es nicht mehr geschafft, ihn zu besuchen. Zu viele Großverfahren, zu viele auswärtige Termine, zu viele private Belange, die mich gehindert haben. Seit Monaten habe ich mir vorgenommen, mal wieder bei ihm vorbeizuschauen, aber es ergab sich einfach nicht. Jetzt, wo er tot ist, bin ich wütend auf mich selbst. Es wäre doch wichtig gewesen!

Norberts Tod dürfte eine Befreiung für ihn sein. Er hat nicht gelitten, sagte man mir, sein Herz hat einfach aufgehört zu schlagen. Mir bleiben die Erinnerungen und seine Bilder.

Mach´s gut, Norbert!


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