Da hat der Kollege Gerd Meister vor einigen Tagen einen vielbeachteten strafblog-Beitrag mit dem Titel „Der Staatsschutz schnüffelt hinter Rechtsanwalt Meister her? Er soll ein Salafist sein?“ veröffentlicht und sicher nicht ganz unbeabsichtigt einige kritische Leserreaktionen hervorgerufen. Ob das denn Alles so stimmen kann?, fragte der eine oder andere. Und weil der liebe Gerd einen guten Tag hatte, antwortete er in der ihm eigenen Offenheit, wie folgt:
„Liebe Leute, ihr wisst, ich bin Strafverteidiger. Zum Dank für eure Kommentare möchte ich ausnahmsweise heute mal ehrlich zu euch sein. Der Kern der Geschichte ist wahr – ehrlich. Das telefonische “Vernehmungsgespräch” habe ich erschwindelt. Nicht dass ich euch etwa bewusst anlügen wollte. Aber während ich beim Schreiben versucht habe, bei der Wahrheit zu bleiben, entglitt sie mir. In Wahrheit hatte KOK “Spitzer” tatsächlich Erkundigungen über mich eingezogen, eröffnete das Gespräch aber sehr freundlich mit den Worten, dass die anonyme Anzeigenerstatterin wohl nicht ganz ernst zu nehmen sei. Er wolle einfach wissen, ob ich Ähnliches in der Imbissbude bemerkt hätte, was ich verneinte.“
Ein paar Tage zuvor war dem Gerd schon einmal die Wahrheit entglitten. Da hatte er mit der provokativen Überschrift „Das muss jetzt aber unter uns bleiben. Der Kollege Pohlen kann´s einfach nicht“ eine herrliche Legende über meine Krawattenabstinenz entworfen, die er ganz am Ende noch dadurch manifestierte, dass er zugab, dass es kein Palstek sonder ein misslungener Schotstek gewesen sei, an dem ich beim verzweifelten Versuch des Krawattenbindens gescheitert sei. Wenn er diese kleine Lüge schon zugegeben hat, dann muss der Rest doch wahr sein, oder vielleicht doch nicht?
Ich weiß nicht, ob Strafverteidiger nur ausnahmsweise mal ehrlich sind. Es gibt ja viele von uns und jeder ist anders. Und außerdem habe ich neulich mal wieder irgendwo gelesen, dass jeder Mensch etliche Dutzend oder sogar ein paar hundert Mal am Tag lügt. Das kann schon mit dem nicht ganz ehrlich gemeinten Guten-Morgen-Gruß beginnen und endet noch lange nicht mit Lob und Komplimenten, die wir wider besseres Wissen verteilen, um positiv zu motivieren oder kleine Freuden zu machen. Lügen können gut gemeint oder bösartig sein, sie können scherzhaft oder satirisch, abwiegelnd oder provokativ sein. Die Wahrheit kann zur Lüge mutieren, wenn sie auf der Seite des Rezipienten missinterpretiert wird, weil der Empfängerhorizont ein anderer ist als derjenige des Sprechenden. Dann kann man versuchen, mit einer kleinen Lüge die Wahrheit wieder herzustellen.
Der Kollege Meister lügt nicht wirklich, die Wahrheit entgleitet ihm lediglich beim Schreiben, obwohl er sich ernsthaft um sie bemüht. Ich finde diese Differenzierung wichtig, sie hat schon philosophische Qualität. Und das, was bei Gerd dabei herauskommt, liest sich doch wirklich prächtig und gibt zu tiefgründigem Nachdenken oder zu amüsiertem Schmunzeln Anlass. Chapeau, lieber Gerd, denke ich manches Mal.
Es gibt – davon kann jeder Strafverteidiger ein Lied singen – auch Richter, denen beim Schreiben von Urteilen die Wahrheit entgleitet. Da liest man dann in der Beweiswürdigung Dinge, die müssen in einem anderen Verfahren stattgefunden haben; jedenfalls finden sich weder in den eigenen Aufzeichnungen noch beim intensiven Nachgraben in den eigenen Erinnerungen Ansatzpunkte für die Äußerungen, die das Urteil dem Angeklagten oder den Belastungszeugen zuschreibt. Sollte da ein Urteil mit der Brechstange der Lüge revisionssicher gemacht werden? Oder hat der Richter da nur etwas falsch verstanden? Oder verstehen wollen? Der Mandant jedenfalls ist zu Recht empört und kann gar nicht begreifen, dass der Irrtum oder die schriftliche Lüge im Urteil einer Revision nicht zugänglich ist. Und hier liegt der entscheidende Unterschied zu den Fabulierungen des Kollegen Meister: Es ist weder amüsant noch überhaupt tolerabel, wenn mit entglittener Wahrheit im Urteil das ganz reale Schicksal eines Menschen in die falsche Richtung gelenkt wird. Aber das ist ein Thema für einen anderen Blogbeitrag.
Kategorie: Strafblog
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