„Nüchtern ist sie ein feiner Kerl“ – Gastbeitrag von Ina Kast zu einem Verfahren wegen versuchten Totschlags vor dem Landgericht Lüneburg



Veröffentlicht am 4. Dezember 2012 von

 

Gastautorin Ina Kast

Gerichtsreportage

„Nüchtern ist sie ein feiner Kerl“

Von Ina Kast

Heroinabhängig, alkoholkrank, von ihren Männern verprügelt: Die arbeitslose Barbara F. hat sich nach 54 Jahren zum ersten Mal gegen einen gewalttätigen Partner zur Wehr gesetzt. Nun sitzt sie für drei Jahre und sechs Monate.

Barbara F. sitzt in ihrem Stuhl, in sich zusammengefallen, lustlos und apathisch. Ihre Haare sind schwarz gefärbt, der Haaransatz blitzt grau hervor. Sie trägt weiße Nike-Turnschuhe mit pinkfarbenen Schnürsenkeln, eine Jeans mit künstlichen Glitzersteinchen an den Seitentaschen. Unter der Kleidung ein geschundener Körper: Oberkörper und Beine sind übersät mit bräunlichen Hämatomen. Schnittverletzungen an Brust und Armen zeugen von Selbstzerstörung, zahlreiche Selbstmordversuche liegen hinter ihr. An ihrem Hals schlängelt sich eine Tätowierung entlang, deren schwache Kontur mit der alten vernarbten Haut verschmelzen. Auch ihren Handrücken ziert eine Tätowierung, die von weitem einem dunklen Schatten gleicht.

Heute erfolgt am Landgericht Lüneburg bereits die dritte Verhandlung im Strafverfahren wegen versuchten Totschlags. Die Staatsanwaltschaft wirft Barbara F. vor, am Nachmittag des 18. Septembers 2009 nach einem Streit in der gemeinsamen Wohnung  mit einem Messer auf ihren 46-jährigen Lebenspartner eingestochen zu haben.

Richter Kompisch bittet die Angeklagte nach vorne zu treten, um ihm ihre Unterarme zu zeigen. Sie erhebt sich. Verteidiger, Staatsanwältin, Gerichtsmediziner und Psychiater kommen hinzu. Sie stehen wie Schaulustige an einem Unfallort neben der Angeklagten. Die Narben oberhalb der Pulsschlagader werden genau inspiziert. Eine Narbe am linken Unterarm ist besonders tief. Barbara F. hat sie sich mit einer Glasscherbe vor einiger Zeit selbst zugefügt.

Als alle wieder Platz genommen haben, verliest Richter Kompisch nüchtern das Vorstrafenregister der Angeklagten. Es dauert über zehn Minuten. Barbara F.s Kopf ist dabei nach unten geneigt, ihre Augen starren auf die gefalteten Hände. Ab und zu wirft sie einen hastigen Blick in Richtung Zuschauerbank. Wie viel versteht die Angeklagte davon, wenn der zuständige Psychiater und Gutachter über ihren Intellekt berichtet, sie sei eingeschränkt und könne nur mit ganzen Zahlen bis 50 rechnen? Was denkt sie, wenn ihr der Psychiater eine Persönlichkeitsstörung attestiert?

Was genau an jenem Septembertag im Immenweg 8 in Celle passiert ist, bleibt schwer zu rekonstruieren. Weder die Angeklagte noch ihr Lebenspartner Hans Schmidt* (46), der gleichzeitig Opfer war, wollen sich ausführlich zum Fall äußern. Barbara F. schweigt – das hat sie ihr Leben lang getan, wenn etwas passiert ist. Auch am Ende des heutigen Verhandlungstags wird sie kein Wort gesagt haben. Für das Schweigen der beiden Beteiligten gibt es Gründe: Die Erinnerung ist verschwommen, da sie zu diesem Zeitpunkt stark alkoholisiert waren. Im Blut von Barbara F. wurde kurz nach der Tat ein Promillewert von 1,7, bei ihrem Lebenspartner ein Wert von 3,03 festgestellt.

Zur Überraschung der Staatsanwaltschaft trafen sich die beiden nach dem Vorfall wieder, sind nun sogar verlobt. Sich vor Gericht zum Tathergang äußern, bedeutet, den anderen anzuschwärzen. Und da Hans Schmidt eine Haftstrafe wegen eines anderen Delikts droht, darf er sich nichts mehr leisten. Ginge es nach den beiden Beteiligten, die als einzige wissen, was wirklich geschah, wäre es gar nicht erst zur Gerichtsverhandlung gekommen. Schmidt erstattete keine Anzeige. Für die Staatsanwaltschaft war eine Anklage unumgänglich: Versuchter Totschlag.

Das Protokoll zeichnet ein düsteres Bild des Tathergangs: Am Mittag des 18. September sitzen Barbara F. und ihr Lebenspartner in der gemeinsamen Küche, betrinken sich mit Bier und Wodka. Die Stimmung ist entspannt, aus dem Radio ertönt Musik. Der Alkoholpegel steigt. Als Hans Schmidt seiner Partnerin beichtet, die Flasche Wodka eben an der Tankstelle geklaut zu haben, will diese ihn bei der Polizei verpfeifen. Kurze Zeit später zertrümmert der 1,80m große Mann die Wohnung, prügelt und drischt auf die 1,62m kleine Barbara F. ein. Auseinandersetzungen wie diese waren in der Zeit vor der Tat an der Tagesordnung. Doch dieses Mal kommt alles anders, denn Barbara F. greift zu einem 20 Zentimeter langen Messer und sticht ihrem Partner zweimal in die Brust. Kurz darauf alarmiert sie den Rettungsdienst, macht ihren Partner zum Täter. Denn sie sagt: „Er hat sich in den Bauch gestochen.“

Den eintreffenden Notärzten und Sanitätern bietet sich ein Bild der Verwüstung: Überall liegen Glasscherben, der Tisch ist in seine Einzelteile zerlegt und das Blut fließt zu Pfützen. Daneben sitzt Barbara F. in ihrem Sessel. Teilnahmslos, geradezu apathisch. Einer der Sanitäter nimmt ihren Gemütszustand als sehr „reduziert“ wahr und bemerkt eine Ruhe, die er so nicht erwartet habe.

Im Gerichtssaal fragt der Richter laut: „Wie kann ein Mensch, der einem anderen gerade ein Messer in die Brust gerammt hat, so ruhig in einem Sessel sitzen?“

Der Notarzt diagnostiziert im Brustbereich des Opfers zwei schwere Einstichwunden, die aber nicht lebensbedrohlich gewesen seien. Auch bei der Angeklagten hat der Kampf Spuren hinterlassen: Blutschorf an Nase und Kinn, eine eigroße Schwellung am Hinterkopf, Verletzungen am Unterarm.

Als sie vom Notarzt behandelt wird, gibt die stark betrunkene  Frau an, sich an nichts mehr erinnern zu können. Auch während der Verhandlung sitzt Barbara F. teilnahmslos auf ihrem Stuhl, die Hände gefaltet. Nur selten durchbricht sie ihre Lethargie, beugt sich etwas nach vorne, als der Sanitäter das Blut auf dem Fußboden erwähnt. Sie bekommt einen Hustenanfall. Kurz darauf versinkt ihr Körper wieder im Stuhl.

„Nüchtern ist sie ein feiner Kerl, die Barbara!“ Drei Mal wiederholt Peter L. diesen Satz. Er ist der wichtigste Zeuge am heutigen Tag. Peter L. ist ein enger Vertrauter der Angeklagten, war acht Jahre mit ihr liiert. Barbara F.s Alkoholabhängigkeit war ausschlaggebend für die Trennung. Peter L. kennt beide Seiten der Angeklagten: Nüchtern ist sie    ruhig und ausgeglichen, betrunken laut  und  aggressiv.

Die Verhandlung dauert an. Zum wiederholten Mal fragt Richter Kompisch Peter L., weshalb Barbara F. wenige Minuten nach der Tat seine Telefonnummer wählte.  Peter L. stottert und stammelt. Auf den besagten Anruf geht er nicht ein. Er habe das Unglück  kommen sehen. Das ambivalente, zerstörerische Verhältnis zwischen Barbara F. und ihrem Partner beschreibt er mit den Worten: „Nüchtern verstehen sie sich, betrunken schlagen sie sich die Köpfe ein, schlagen sich halbtot.“

Der Richter lässt nicht locker, er erhebt seine Stimme. Er möchte wissen, warum Barbara F. die Nummer ihres Ex-Partners wählte. Gezielt drängt er Peter L. in die Ecke, will hören, was genau Barbara F. an diesem Tag ins Telefon gesprochen hat. Und dann entschwindet aus Peter L.s Mund jener Satz, auf den der Richter gewartet hat: „Sie sagte mir, dass sie es mit den Nerven nicht mehr aushält, sie hat geweint. Sie sagte etwas von einem Messer.“ Peter L. habe verstanden, was geschehen sei. Er riet Barbara F., die Polizei zu alarmieren.

Polizeieinsätze kamen im Immenweg 8 schon öfters vor: Als Schmidt im Sommer 2009 gerade mal wieder  hochalkoholisiert in der Wohnung wütet und Barbara F. Angst bekommt, ruft sie die Polizei um Hilfe. Der eingehende Notruf von damals mit Barbara F.s Stimme ist noch auf Tonband gespeichert: „Ich kann mich gegen den Mann nicht wehren! Dann stech ich ihn eben ab!“, sagte sie. Vor Gericht bestreitet Peter L., dass die Angeklagte diese Drohung auch dieses Mal vor der Tat geäußert habe.

Dass sie sich Anfang 2009 von ihrem Lebenspartner dazu überreden ließ, trotz Bedenken und Angst vor Misshandlungen bei ihm einzuziehen, wird Barbara F. nun zum Verhängnis. Sie sitzt auf der Anklagebank. Nicht er, der schon mehrfach die gemeinsame Wohnung kurz und klein geschlagen hat. Sie, die jahrelang ausschließlich Gewalt gegen sich selbst ausübte, stach mit dem Messer zwei Mal in die Brust ihres Lebenspartners. Schon mehrfach versuchte sie sich durch Aufschneiden der Pulsschlagader das Leben zu nehmen. Das Prügelopfer, es wurde dieses Mal fast selbst zum Mörder. Wenngleich sie zum Tatzeitpunkt nicht zurechnungsfähig war und die Tat sehr wahrscheinlich im Affekt erfolgte, wirken sich Barbara F.s zahlreiche Vorstrafen, zu denen Diebstahl, Drogenbesitz und Betrug zählen, negativ aus.

Ungewollt schwanger mit 15, im Heim aufgewachsen, heroinabhängig – nun Gefängnis. Das Lüneburger Schwurgericht verurteilt die Angeklagte zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. In dieser Zeit wird sie psychiatrische Betreuung erhalten, eine längere Suchttherapie antreten. Ihr Leben lang versuchte sie, mit dem Alkohol ihre Vergangenheit wegzuspülen.

Dem Gutachter antwortete Barbara F. auf die Frage nach den Schicksalsschlägen in ihrem Leben: „Ich weiß nicht mehr alles, ich habe es verdrängt. Ich wollte nicht mehr alles wissen.“ Es scheint, als wolle sie auch dieses Mal nicht mehr alles wissen. Nicht wissen, wie sie das Messer in den Händen hielt. Nicht wissen, wie sie in die Brust ihres Partners einstach. Und wie sich die Blutlache langsam über den Fußboden zog.

 

*Name geändert


 


Kategorie: Strafblog
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