„Wenn man einmal einen Menschen richtet, dann muss man es mit Kenntnis aller Umstände tun“, schrieb der berühmte russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski einst.
Ob es diese Worte waren, die dem Vorsitzenden eines Schöffengerichts im deutsch-belgisch-niederländischen Grenzbereich in der vergangenen Woche in den Sinn kamen?
Ich schaute jedenfalls doch etwas verwundert, als er begann, das Vorstrafenregister meines Mandanten nicht nur mit den Daten des Bundeszentralregisterauszuges vorzulesen, sondern es sich nicht nehmen ließ, beinahe jede dazugehörige Urteilsbegründung vorzulesen und jeweils mit eigenen Bemerkungen zu versehen.
Zwar war der Registerauszug nicht allzu lang, aber immerhin noch gefüllt genug, um mich zu der höflichen Nachfrage beim Herrn Vorsitzenden zu veranlassen, warum er dies machen würde.
Seine Antwort schien von mindestens genauso ehrlicher Überraschung geprägt wie meine Frage zuvor: „Das macht man so, Herr Verteidiger“.
Ich gebe zu, ich war einigermaßen verdutzt über diese Aufklärung, zumal die vorgetragenen Verurteilungen im Hinblick auf die angeklagte Tat weder einschlägig waren noch sonst irgendwie damit in Verbindung standen.
Das alles geschah kurz nach Sitzungsbeginn um 8 Uhr morgens. Die reichlich frühe Terminierung hatte mich fast schon zur Unzeit aus dem Bett getrieben, da ja noch eine gewisse Anreisezeit zu berücksichtigen war. Die Verkehrslage war ruhig, und so war ich mit meinem pflichtbewussten Praktikanten überpünktlich im Sitzungssaal erschienen. Wir mussten dann feststellen, dass die Hauptbelastungszeugin noch durch Abwesenheit glänzte. Nachdem knapp zwei Minuten vergangen waren, unterbrach der Vorsitzende kurz die Sitzung, um die polizeiliche Vorführung der Zeugin anzuordnen. Dass leichte Verspätungen ihre Gründe haben können und dass das berühmte akademische Viertel jedem Zeugen, selbst wenn er oder sie nicht akademisch gebildet sein sollte, zuzubilligen sein sollte, schien dem Vorsitzenden fremd zu sein.
Die Zwischenzeit überbrückte das weise Gericht dann mit der erwähnten Verlesung der Entscheidungen aus dem Vorstrafenregister meines Mandanten.
Wenige Minuten später erschien die Zeugin dann doch – ganz ohne polizeiliche Vorführung.
Nach Anhörung der nicht nur aus meiner Sicht wenig überzeugenden Zeugin folgte ein Polizist. Der hatte seinerzeit die Anzeige aufgenommen und sprach zur Überraschung aller von der Existenz einiger Fotos von den Verletzungen der Zeugin. Ich wies daraufhin, dass die Dokumentation der angeblichen Verletzungen laut Ermittlungsakte von der sachbearbeitenden Polizei ausdrücklich verneint worden war (die Staatsanwaltschaft hatte nachgefragt). Daraufhin verlangte der Vorsitzende recht barsch vom Zeugen, der möge die Bilder bitte jetzt sofort besorgen. Als der sich hierzu nicht im Stande sah, wurde er kurzerhand unvereidigt entlassen. Im Anschluss daran erklärte der Richter recht ungehalten, dass man jawohl auf weitere Zeugen verzichten könne. Bei den wirren Angaben der Hauptbelastungszeugin und „solcher“ Polizeiarbeit sehe er wenig Raum für eine Verurteilung.
Auch wenn der weitere Verlauf der Hauptverhandlung teilweise skurril war, wurde mein Mandant am Ende frei gesprochen. Hierfür wurden allerdings satte drei Stunden benötigt, obwohl das Ergebnis eigentlich bereits nach 30 Minuten festgestanden hatte.
Aber es gab noch einen Mitangeklagten, dem – was er eingeräumt hatte – zusätzlich zu dem Hauptvorwurf noch Fahren ohne Fahrerlaubnis zur Last gelegt worden war. Der Vorsitzende wollte unbedingt noch aus einer weit zurückliegenden Strafsache gegen den Mann ein Urteil verlesen und forderte vom Sitzungsstaatsanwalt, die Akte während einer hierzu anberaumten Sitzungspause zu besorgen. 15 Minuten Zeit gab er ihm dafür. Genau (!) 15 Minuten, nicht mehr.
Nachdem auch dies geschehen war und wir dem ausführlichen Vortrag über die lange zurückliegende Vorstrafe des Mitangeklagten lauschen durften, erfolgte dann nach drei Stunden der Freispruch in der Hauptanklage. Der Mitangeklagte wurde wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe verdonnert. Welch eine Zeitverschwendung!
Meine Frage an den Staatsanwalt nach der Sitzung, ob es hier immer so zugehen würde, beantworte er mit einem wissenden Lächeln und dem Rat: „Nur wundern, nicht ärgern“.
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