Wie anders, wenn es einen selbst betrifft. Hat jemand einen Tipp für den ratlosen Kollegen Strathmann?



Veröffentlicht am 14. März 2012 von

Am nächsten Morgen mit dickem Schädel aufräumen. Die lange Tafel, ein Schlachtfeld aus halbvollen und leeren Gläsern, krustigen Tellern, zerknüllten Servietten, Korken und leeren Zigarettenschachteln. Wachsflecken aus dem kahlen Kandelaber auf der teuren Tischdecke. Die Musik dudelte aus dem Küchenradio. Es hatte sich gelohnt – vorbei das rauschendes Fest mit den üblichen Nachwirkungen – Bauchmuskelkater vom Lachen und abklingende Kopfschmerzen.

Nachdem fast alles wieder an seinem Platz war, lag einsam auf dem Küchentisch der Verschluss einer Wodkaflasche. Langsam kam Strathmann die Erinnerung. Hatte er die letzten unermüdlichen Gäste nicht mit einem letzten Trunk Wodka aus dem Haus komplementiert? Jeder ein kleines Gläschen für den Heimweg? Die Flasche war noch halbvoll gewesen! Die erfolglose Suche bekräftigte ihn in seinem Verdacht. Ein Schmunzeln und Gedanken an die eigene Jugend. Natürlich hatte die 16-jährige Stieftochter Sophie und ihre Bagage, die in ihrem Paralleluniversum im anderen Haustrakt gefeiert hatte, die Flasche gemopst.

Die notwendige Ansprache über den Mundraub endete mit entrüstetem Bestreiten der Zieh-Tochter. Auf den unsicheren Hinweis, dass auch die älteren Kinder des Hauses sich in der Vergangenheit die eine oder andere Flasche ausgeliehen, aber wenigstens am nächsten Morgen gespielte Reue gezeigt und ihre Schuld eingestanden hatten,  knallte die „Kinderzimmertüre“ vor seiner Nase zu.

Eine Woche später vermisste seine Frau ihr teures Parfüm. Sie sah Strathmann fragend an, und beide dachten das Gleiche. Ein paar  Tage später fehlte ein 10 € – Schein, der auf der Badezimmerkommode vor sich hin gestaubt hatte. Die einberufene Familienkonferenz brachte kein tragbares Ergebnis, vielleicht – so Sophie – habe ja die Putzfrau das Parfüm und Geld genommen. Sie werde ja sowieso bestimmt unterbezahlt. Pädagogisch herausgefordert, steckte Strathmann Sophie die fälligen 25 € wöchentliches Taschengeld zu. Sie brauche nicht zu klauen, rief er ihr verhalten nach. In dieser Nacht kam Sophie nicht nach Hause. Sie erschien erst am nächsten Abend. Sie sei bei Freunden gewesen. Ja, welche denn, wollte man wissen. „Die kennt ihr sowieso nicht“, war die verschämte Antwort und mehr war aus dem Mädchen nicht herauszubekommen. Immerhin versprach sie Besserung, es tue ihr leid. Sie wisse selbst nicht, was mit ihr los sei.

Die Eheleute beschlossen, auf die pubertären Hormonstörungen mit Verständnis zu reagieren. Schwamm drüber, ja, die für´s Wochenende geplante kleine Feier der Jugendlichen im Hause könne stattfinden. Bis zum Wochenende herrschte wieder eine harmonische Atmosphäre. Gemeinsame Abendessen, keine Vorwürfe, keine pädagogischen Gespräche – nur aufmerksames Zuhören, Wundern und auch Freude über die geschilderte Welt der Jugendlichen.

Für´s Wochenende kauften sie Limo, Cola und Eistee und sogar eine Flasche Sekt, die sich die 6 Jugendlichen unter der Zusage, die elterlichen Alkoholvorräte nicht anzugreifen, teilen duften. Strathmann und seine Frau überreichten frische Bettwäsche, Decken und Kopfkissen, vergewisserten sich, dass die Eltern der Freundinnen mit der fremden Übernachtung einverstanden waren und verabschiedeten sich früh ins Bett. Am nächsten Morgen waren die Jugendlichen weg – auch Sophie.

Eine erneute Familienkonferenz unter Beteiligung von Sophies leiblichem Vater, der betreffenden Freundinnen und ihrer Eltern – diesmal ein etwas schärferer Ton. Wieder das Gelöbnis der Besserung. Sie seien spontan auf die Idee eines Discobesuchs gekommen und hätten eben bei einer anderen Freundin übernachtet. Das Handy sei leer gewesen, deshalb kein Anruf. Die Frage, ob alle 6 Handys leer gewesen seien, wurde mit niedergeschlagenen Köpfen nicht beantwortet.

In der folgenden Woche verließ Sophie pünktlich das Haus, um zur Schule zu gehen.

Am Mittwoch ereilte Sophies Mutter ein Anruf der Schuldirektorin, was mit ihrer Tochter sei. Sie fehle seit einer Woche unentschuldigt.

Als Sophie um 24 h immer noch nicht zu Hause war und auch nicht ans Handy ging, betrat die verzweifelte Mutter Sophies Zimmer und bekam einen Schlag. Das bis dahin ordentliche Zimmer war verwüstet. Wäsche türmte sich auf dem Sofa, überall Kleidungsstücke, wie aus den Schränken gerissen. Leere Chipstüten, Flaschen, Verpackungen – fallengelassen, wie beim Kölner Karnevalsumzug. In einem auf dem Bett liegenden Rucksack entdeckte sie drei ihrer teuersten Paare High-Heels und drei ebenso teure Cocktailkleider aus ihrem Kleiderschrank –  zerschrammt, zerrissen und fertig für die Mülltonne. Das Ergebnis des vorangegangenen Discobesuchs mit ihren Freundinnen.

Fortan weigerte sich Sophie – trotz mittels eingeschriebenen Briefes angedrohter Ordnungsverfügung – zur Schule zu gehen. Sie suche sich eine andere Schule.

Die Mutter wandte sich ans Jugendamt und eine freundliche, verständnisvolle Sozialarbeiterin absolvierte zeitnah einen Hausbesuch. Sophie gelobte Besserung. Weitere vermittelnde Gespräche wurden vereinbart. Eine neue Schule sollte gesucht werden. Alle bemühten sich um Sophie.

Vor drei Tagen stellte Strathmann fest, dass aus einem Briefumschlag in seiner Schlafzimmerkonsole 3.500 €, die er für ein in dieser Woche anzulieferndes Sofa zurückgelegt hatte, fehlten. Das ersparte Geld war weg.

Strathmann ist ein erfahrener Strafverteidiger – auch in Jugendsachen. Er kritisierte stets das schablonenhafte Mantra der Jugendrichter und Jugendgerichtshelfer, es müssten stets eindeutige Grenzen gesetzt werden und verwies bei jeder Gelegenheit darauf, dass die Jugendlichen bereits in ihrem Alltag von Grenzen umzingelt seien. Verständnis und verstärkendes Lob seien angezeigt, keine Hau-Drauf-Pädagogik. Jetzt aber verlor er die Nerven. Bei ausgeschaltetem Licht wartete er bis morgens um 2 h. Endlich hörte er, wie Sophie leise die Haustüre aufschloss, um sich in ihr Zimmer zu schleichen. Seine Geduld war am Ende. Als sie das Wohnzimmer betrat, schaltete er das Licht an.

Nach anfänglichem Leugnen gestand Sophie, das Geld gestohlen zu haben. Sie habe Schuhe, Jeans und Jacken für sich und ihre Freundinnen gekauft. 3.500 €? Keine weiter Erklärung zum Verbleib des Geldes. Strathmann und seine Frau sind bis heute fassungslos. Sophie flüchtete am nächsten Tag zu ihrem leiblichen Vater, der vor lauter Verzweiflung kurz vor einem Herzinfarkt steht. Einmal täglich erscheint sie zu Hause, kocht sich eine Kleinigkeit, wäscht ihre Wäsche und verschwindet dann wieder. Wohin, weiß keiner. Zur Schule geht sie nach wie vor nicht.

Strathmann und seine Frau sind in größter Sorge. Er bat mich um Rat, aber ich bin ratlos.  Wie kann eine Jugendliche sich innerhalb weniger Wochen so verändern, so abgleiten? Hat irgendjemand eine Idee?

 


Kategorie: Strafblog
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