In der Justiz ist es allgemein bekannt: Zeugen sind die unsichersten Beweismittel. Denn: Irren ist menschlich.
Dennoch werden die Entscheidungen in Strafprozessen meist auf die (unzutreffenden?) Erinnerungen von Zeugen gestützt. Wenn diese dann das diametrale Gegenteil von dem aussagen, was der Mandant nur wenige Minuten zuvor in seiner Einlassung angegeben hat, kann dem Verteidiger schon mal warm unter der Robe werden. Erst recht, wenn es sich bei einem solchen Zeugen um einen mit dem Fall betrauten Polizisten handelt, dem als sogenannter „Berufszeuge“ regelmäßig eine besonders gute Auffassungsgabe und Wiedergabefähigkeit sowie eine von Berufs wegen gegebene Neutralität und Objektivität zugeschrieben wird.
Doch wieso erzähle ich das? Weil es mir zuletzt selbst so erging.
Vor wenigen Tagen verteidigte ich in einer Strafsache vor einem nordrhein-westfälischen Amtsgericht. Strafrechtlich gesehen keine große Sache mit schwerer Strafandrohung, aber doch ein Verfahren, dessen Ausgang für die Reputation meines Mandanten von entscheidender Bedeutung war.
Ihm wurde vorgeworfen, sich der minderjährigen Nachbarstochter an verschiedenen Tagen nackt gezeigt und immer wieder ihren Blickkontakt gesucht zu haben, während er an seinem Glied manipulierte. Schließlich soll er sich dazu verstiegen haben, sie aufzufordern, sich ihm ebenfalls nackt zu zeigen.
Ein Vorwurf, der, wäre er zur Verurteilung gekommen, dazu geführt hätte, dass der Mandant sich in der Nachbarschaft nicht mehr hätte blicken lassen und sein soziales Leben in diesem Umfeld hätte beenden können.
Zum Glück (und vielleicht nicht nur aus Glück) kam es anders. Aber erst einmal der Reihe nach.
Der Mandant hat die Vorwürfe bestritten und sich über mich dahingehend eingelassen, dass die Vorwürfe der Nachbarstochter reine Phantasie seien. Er sei zwar in dem gegenüber ihrem Fenster liegenden Zimmer anwesend gewesen und hätte auch nicht mehr als eine knielange Badeshorts getragen. Dies sei aber dem geschuldet, dass es Hochsommer gewesen sei, entsprechende Temperaturen geherrscht hätten und er zudem mit Arbeiten am Haus beschäftigt gewesen sei. Außerdem sei sein Sohn, der ihm bei den Arbeiten geholfen habe, anwesend gewesen und könne bezeugen, dass er sich zu keinem Zeitpunkt so verhalten habe, wie es ihm die Anklage vorwerfe. Sein Sohn sei auch von dem eintreffenden Polizeibeamten bemerkt worden. Denn dieser habe seinen Sohn ausdrücklich weggeschickt, nachdem er auf das Klingeln des Beamten zu der bereits von der Mutter geöffneten Haustür gekommen sei. Außerdem habe er, der Mandant, nach Belehrung von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht.
Der daraufhin vernommene Polizeibeamte erinnerte sich an die Geschehnisse jedoch völlig anders. Der Mandant, nicht dessen Ehefrau sei es gewesen, der die Tür geöffnet habe. Die Ehefrau könne die Tür auch nicht geöffnet haben, da sie, was er ganz genau erinnere, erst später nach Hause gekommen sei. Auch ein Sohn sei nicht im Haus gewesen. Erst recht habe er keinen potentiellen Zeugen weggeschickt. So etwas würde er nie tun. Außerdem erinnere er sich daran, dass die Anzeigeerstatterin ihm geschildert habe, dass Tatort das Zimmer des Sohnes gewesen sei. Dies sei für ihn Grund gewesen, nachzufragen, ob der Sohn im Hause sei. Diese Frage sei von dem Mandanten aber verneint worden. Daran erinnere er sich ebenfalls hundertprozentig. Ein Auto, beispielsweise das des Sohnes, habe er in der Auffahrt zum Haus auch nicht stehen sehen. Dass der Mandant von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht habe, stimme ebenfalls nicht. Dieser habe vielmehr angegeben, geduscht zu haben und deshalb nur spärlich bekleidet durch das Zimmer seines Sohnes gelaufen zu sein. Dies könne auch sein Kollege bezeugen, der später hinzugekommen sei. Für diesen habe er nämlich extra die Türe offen gelassen, so dass dieser dann problemlos hätte eintreten und die Vernehmung verfolgen können.
Man wird wohl verstehen, dass auch eine Verteidigerin mit langjähriger Berufserfahrung nach einer solchen Aussage eines (immerhin) Polizeizeugens, den bis dahin angestrebten Freispruch erst einmal in weiter Ferne sieht. Allerdings gehört es nicht zu den Maximen unserer Kanzlei, kampflos die Waffen zu strecken. Meistens, insbesondere dann, wenn die eigene Menschenkenntnis einem sagt, dass die Schilderung des Mandanten näher an der Wahrheit liegt als sie der Zeugen, laufen die Verfahren dann unter der Überschrift „Jetzt erst recht“.
Letztlich führte dies auch zum Erfolg. Nach vielen Fragen, die dem Kollegen, der die Adhäsionsklägerin (also die Anzeigeerstatterin) vertrat, zunehmend weniger gefielen, und den daraufhin von den Zeugen gegebenen Antworten stand jedenfalls fest, dass die Schilderung des Polizeibeamten, der meinen Mandanten zu Beginn der Verhandlung nahezu „versenkt“ hatte, wohl doch nicht gefolgt werden konnte. Jedenfalls wusste sein Kollege, dass er gegen Ende der Belehrung hinzugekommen sei und der Mandant von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht habe, also gerade nichts von Duschen oder sonstiger Körperhygiene erzählt haben konnte. Der Kollege erinnerte sich auch nicht an eine offene, sondern vielmehr an eine verschlossene Haustür, da er habe klingeln müssen. Bei dieser Gelegenheit habe er auch ein Fahrzeug (bei dem es sich um das des Sohnes handelte) in der Auffahrt stehen sehen. Weitaus wichtiger jedoch waren die auf Nachfrage gegebenen Antworten der Anzeigeerstatterin und deren Mutter. Denn beide hatten die Anwesenheit des Sohnes, also des Alibizeugen, bemerkt. Dass die Ehefrau und der Sohn des Mandanten dessen Einlassung bestätigten, dürfte an dieser Stelle weniger überraschend sein. Die (zumindest aus Verteidigersicht) abenteuerlich anmutende Geschichte der Anzeigeerstatterin, wonach der Mandant 20 Minuten mit bis zu den Knien heruntergelassener Hose und immer wieder Blickkontakt zu ihr aufnehmend das Zimmer durchschritt (durchwatschelte?) und dabei an seinem Glied manipulierte, während ihre Mutter an der Tür zu ihrem Zimmer gestanden hätte, um eine Situation abzuwarten, die ein Einschreiten rechtfertige (sollte das 20 Minuten andauernde Verhalten nicht schon Anlass genug gewesen sein?), konnte das Gericht dann auch nicht von der Schuld des Mandanten überzeugen. Zum Glück.
Der Mandant war erleichtert, ist es möglicherweise noch.
Ich hoffe, dass der Richter – und vielleicht der ein oder andere Leser aus Rechtsprechungskreisen – aus diesem Verfahren lernt bzw. sich bei künftigen Fällen in Erinnerung ruft, dass nicht nur Irren menschlich ist, sondern auch Polizisten nur Menschen sind und zwar solche mit einem ebenso schlechten Erinnerungsvermögen wie jeder andere.
Kategorie: Strafblog
Permalink: Polizeibeamte sind auch nur Menschen
Schlagworte:
vor: Auf die Einstellung kommt es an: Der Knast als positive Lebenserfahrung
zurück: Der teuerste Strafzettel aller Zeiten? Marco Reus muss 540.000 Euro zahlen.